Die Stadtverordnetenversammlung möchte also
der Trauer der Stadtgesellschaft Ausdruck geben, indem sie die beiden
christlichen Kirchen auffordert, von den Türmen der Innenstadtkirchen
läuten zu lassen, anstatt sich selber der politischen Arbeit
auszusetzen, eine konsensfähige Form des Gedenkens zu finden. Wir
halten diesen Vorgang für einen abscheulichen Meilenstein in einer so
noch vor Kurzem für undenkbar gehaltenen Durchsetzung einer
geschichtsrevisonistischen Sicht auf den Zweiten Weltkrieg.
Denn wessen morgen gedacht wird, ergibt sich vor allem aus einer Betrachtung darüber, wessen morgen in der von Hübner sowie CDU, FDP, SPD und GRÜNEN beschlossenen Form nicht gedacht werden kann
nämlich aller Opfer des Nazifaschismus, des Krieges und ihrer
Nachkommen, die sich nicht in der Form eines Glockenläutens von
Kirchtürmen angemessen gewürdigt fühlen können oder wollen: viele
Jüdinnen und Juden, kommunistische und sozialdemokratische
WiderstandskämpferInnen, von denen viele keine Kirchenmitglieder waren.
Ihrer kann und darf man zumindest nicht ungefragt angemessen in einer
Weise gedenken, die einer spezifisch christlichen, religiösen
Formensprache entspringt. Übergeht man diese Tatsache, macht man
gewollt oder ungewollt deutlich, daß auf sie keinen Wert gelegt werden,
das Gedenken also exklusiv auf eine bestimmte “Opfergruppe” begrenzt
bleiben soll.
Nicht gedenken können in dieser Form sicherlich auch nicht so
einfach alle die, die als MigrantInnen oder deren Nachkommen durchaus
auch der historischen Zerstörung der Stadt, in der sie inzwischen seit
langem leben, hätten gedenken können und wollen, solange dies in einer
allen möglichen Form geschehen und nachdem es in einer breiten und
inklusiven zivilgesellschaftlichen Debatte vorbereitet gewesen wäre.
Das ist nicht geschehen. Das wollte Hübner wahrscheinlich auch gar
nicht, und denen, die ihm zustimmten, war es anscheinend entweder egal
oder keinen Konflikt wert. Faktisch ist daher das morgen erstmalig
stattfindende Gedenken aufgrund seiner Form eine Exklusivveranstaltung
der Nachkommen derjenigen Deutschen, die weder jüdische, atheistische
oder migrantische Wurzeln hatten.
Allein schon diese Überlegung macht jede Zustimmung von
AntifaschistInnen zu der morgen bevorstehenden Premiere des Geläuts an
einem 22. März unmöglich.
Hinzu kommt, daß bislang mit guten Gründen das sogenannte Große
Stadtgeläut auf vier christliche Feiertage beschränkt war, die durch
die “Frankfurter Läuteordnung” von 1978 zwischen Stadt und Kirchen
geregelt war.
Der 22. März 2010 wird in die Frankfurter Geschichte eingehen als
derjenige Tag, an dem diese Regel zum ersten Mal durchbrochen wurde –
auch wenn, was ursprünglich gar nicht vorgesehen war, nur mit der
jeweils tiefsten Glocke aller sogenannten Dotationskirchen geläutet
werden soll. Welcher politische Vorgang sich hier abspielt, wird
deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß selbst am Tag der
sogenannten Wiedervereinigung Deutschlands, am 3. Oktober 1990, sich
die beiden Kirchen standhaft weigerten, diesem staatspolitischen
Vorgang durch ihre Kirchenglocken irgendeine angebliche “höhere Weihe”
zu erteilen. Es gab dazu seinerzeit heftige politische
Auseinandersetzungen, in denen sich die Kirchen letztlich durchsetzten
und nicht läuteten. Diesmal läuten sie – fast alle.
Noch im Jahr 2004 scheiterte Hübner mit einer vergleichbaren
Initative und machte zugleich deutlich, wo er politisch steht. Sein
Versuch, zur Erinnerung an den 22. März 1944 sechzig Jahre später in
einem kirchlichen Gebäude direkt am Römerberg eine Lesung von Friedrich
Heers Roman “Der Brand” stattfinden zu lassen scheiterte
daran, daß ihm in letzter Stunde der Raum entzogen wurde. Es entfiel
damit der kirchliche Ort für die Lesung aus einem Buch, an dem Hannes
Heer in seiner Untersuchung “Vom Verschwinden der Täter” besonders deutlich machen konnte, wie der “deutsche Seelenfrieden”
gestrickt ist. Eine Ersatzveranstaltung andernorts wurde am selben Tage
von AntifaschistInnen erfolgreich gestört – wobei sich herausstellte,
daß sie auch von altbekannten Nazis der sogenannten “Erlebnisgeneration” besucht war.
Wir wüßten nicht, daß Hübner sich seither politisch gewandelt hätte. Gewandelt haben sich offenbar andere.
Völlig entlarvend aber ist der Umstand, daß die
Stadtverordnetenversammlung mit ihren Mehrheitsfraktionen sich zwar
dazu bereit finden konnte, Hübners Form eines christlich-deutschen
Gedenkens zu akzeptieren, ein Jahr zuvor aber mit denselben Fraktionen
einen Antrag der LINKEN abgeschmettert hatte, künftig in jedem Jahr und
offiziell des 8. Mai 1945 als eines Tages der Befreiung zu gedenken.
Deutlicher kann man sich selber kaum positionieren.
Das politische Koordinatensystem Frankfurts verschiebt sich nach
rechts. Das wird ausgerechnet am Tag der Zerstörung Frankfurts als
einer direkten Folge des von Nazideutschland und seiner “Zustimmungsdikatur” über weite Teile der Welt gebrachten Krieges offiziell zu Protokoll gegeben.
Umso bemerkenswerter ist die Haltung des Kirchenvorstands der St.
Paulsgemeinde, der für die Alte Nikolaikirche auf dem Römerberg seine
Zustimmung zu dieser schlimmen Gemeinschafts-Veranstaltung verweigerte.