22. März 2010: Glockenläuten – für wen?

erstellt von Anti-Nazi-Koordination — zuletzt geändert 2010-03-21T23:53:36+02:00
Sah es im September 2009 noch so aus, als stünde Wolfgang Hübner nur knapp vor der Erfüllung eines Traums, so kann man inzwischen feststellen: er hat’ s geschafft. In Frankfurt am Main wird am 22. März 2010, auf Beschluss aller Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung mit Ausnahme der LINKEN und Ökolinx sowie unter Kooperation der beiden großen christlichen Kirchen eine wenig modifizierte Form des sogenannten “Großen Stadtgeläuts” ertönen – zum Gedenken an die Opfer der allierten Bombenangriffe auf Frankfurt an diesem Tag im Jahre 1944.

Die Stadtverordnetenversammlung möchte also der Trauer der Stadtgesellschaft Ausdruck geben, indem sie die beiden christlichen Kirchen auffordert, von den Türmen der Innenstadtkirchen läuten zu lassen, anstatt sich selber der politischen Arbeit auszusetzen, eine konsensfähige Form des Gedenkens zu finden. Wir halten diesen Vorgang für einen abscheulichen Meilenstein in einer so noch vor Kurzem für undenkbar gehaltenen  Durchsetzung einer geschichtsrevisonistischen Sicht auf den Zweiten Weltkrieg.
Denn wessen morgen gedacht wird, ergibt sich vor allem aus einer Betrachtung darüber, wessen morgen in der von Hübner sowie CDU, FDP, SPD und GRÜNEN beschlossenen Form nicht gedacht werden kann
nämlich aller Opfer des Nazifaschismus, des Krieges und ihrer Nachkommen, die sich nicht in der Form eines Glockenläutens von Kirchtürmen angemessen gewürdigt fühlen können oder wollen: viele Jüdinnen und Juden, kommunistische und sozialdemokratische WiderstandskämpferInnen, von denen viele keine Kirchenmitglieder waren. Ihrer kann und darf man zumindest nicht ungefragt angemessen in einer Weise gedenken, die einer spezifisch christlichen, religiösen Formensprache entspringt. Übergeht man diese Tatsache, macht man gewollt oder ungewollt deutlich, daß auf sie keinen Wert gelegt werden, das Gedenken also exklusiv auf eine bestimmte “Opfergruppe” begrenzt bleiben soll.

Nicht gedenken können in dieser Form sicherlich auch nicht so einfach alle die, die als MigrantInnen oder deren Nachkommen durchaus auch der historischen Zerstörung der Stadt, in der sie inzwischen seit langem leben, hätten gedenken können und wollen, solange dies in einer allen möglichen Form geschehen und nachdem es in einer breiten und inklusiven zivilgesellschaftlichen Debatte vorbereitet gewesen wäre. Das ist nicht geschehen. Das wollte Hübner wahrscheinlich auch gar nicht, und denen, die ihm zustimmten, war es anscheinend entweder egal oder keinen Konflikt wert. Faktisch ist daher das morgen erstmalig stattfindende Gedenken aufgrund seiner Form eine Exklusivveranstaltung der Nachkommen derjenigen Deutschen, die weder jüdische, atheistische oder migrantische Wurzeln hatten.
Allein schon diese Überlegung macht jede Zustimmung von AntifaschistInnen zu der morgen bevorstehenden Premiere des Geläuts an einem 22. März unmöglich.
Hinzu kommt, daß bislang mit guten Gründen das sogenannte Große Stadtgeläut auf vier christliche Feiertage beschränkt war, die durch die “Frankfurter Läuteordnung” von 1978 zwischen Stadt und Kirchen geregelt war.
Der 22. März 2010 wird in die Frankfurter Geschichte eingehen als derjenige Tag, an dem diese Regel zum ersten Mal durchbrochen wurde – auch wenn, was ursprünglich gar nicht vorgesehen war, nur mit der jeweils tiefsten Glocke aller sogenannten Dotationskirchen geläutet werden soll. Welcher politische Vorgang sich hier abspielt, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß selbst am Tag der sogenannten Wiedervereinigung Deutschlands, am 3. Oktober 1990, sich die beiden Kirchen standhaft weigerten, diesem staatspolitischen Vorgang durch ihre Kirchenglocken irgendeine angebliche  “höhere Weihe” zu erteilen. Es gab dazu seinerzeit heftige politische Auseinandersetzungen, in denen sich die Kirchen letztlich durchsetzten und nicht läuteten. Diesmal läuten sie – fast alle.

Noch im Jahr 2004 scheiterte Hübner mit einer vergleichbaren Initative und machte zugleich deutlich, wo er politisch steht. Sein Versuch, zur Erinnerung an den 22. März 1944 sechzig Jahre später in einem kirchlichen Gebäude direkt am Römerberg eine Lesung von Friedrich Heers Roman “Der Brand” stattfinden zu lassen scheiterte daran, daß ihm in letzter Stunde der Raum entzogen wurde. Es entfiel damit der kirchliche Ort für die Lesung aus einem Buch, an dem Hannes Heer in seiner Untersuchung “Vom Verschwinden der Täter” besonders deutlich machen konnte, wie der “deutsche Seelenfrieden” gestrickt ist. Eine Ersatzveranstaltung andernorts wurde am selben Tage von AntifaschistInnen erfolgreich gestört – wobei sich herausstellte, daß sie auch von altbekannten Nazis der sogenannten “Erlebnisgeneration” besucht war.
Wir wüßten nicht, daß Hübner sich seither politisch gewandelt hätte. Gewandelt haben sich offenbar andere.
Völlig entlarvend aber ist der Umstand, daß die Stadtverordnetenversammlung mit ihren Mehrheitsfraktionen sich zwar dazu bereit finden konnte, Hübners Form eines christlich-deutschen Gedenkens zu akzeptieren, ein Jahr zuvor aber mit denselben Fraktionen einen Antrag der LINKEN abgeschmettert hatte, künftig in jedem Jahr und offiziell des 8. Mai 1945 als eines Tages der Befreiung zu gedenken. Deutlicher kann man sich selber kaum positionieren.
Das politische Koordinatensystem Frankfurts verschiebt sich nach rechts. Das wird ausgerechnet am Tag der Zerstörung Frankfurts als einer direkten Folge des von Nazideutschland und seiner “Zustimmungsdikatur” über weite Teile der Welt gebrachten Krieges offiziell zu Protokoll gegeben.
Umso bemerkenswerter ist die Haltung des Kirchenvorstands der St. Paulsgemeinde, der für die Alte Nikolaikirche auf dem Römerberg seine Zustimmung zu dieser schlimmen Gemeinschafts-Veranstaltung verweigerte.