Östlich von Naxos

“Anarchie auf Naxos? Ein Frankfurter Industriegelände erfindet sich neu” hieß das Wochenendfeature, das der nimmermüde, erkundende und kartografierende Deutschlandfunk zu einem beliebten Stück Industriemuseum am Samstagmorgen ausstrahlte.

Bemerkenswerte Eigenschaften zeichnen die Naxos gerade in Frankfurt aus: eine Industriebrache mit richtigen Backsteinen und Fertigungshallen mitten in der glattgeputzten Finanzstadt; gar noch an der Schnittlinie der hippen Stadtteile Nordend, Bornheim und Ostend; es beheimatet in seinen Hallen nicht ganz so gebügelte Künstlerinitiativen mit Projekten gewisser Strahlkraft; ihre Zukunft ist umstritten zwischen drohendem Abriß, Kommerzialisierungsvarianten, Kulturstätte und neuem Wohnen; sie wurde errichtet vor weit über 100 Jahren von einem jüdischen Industriellen, dessen Familie im Konzentrationslager endete. Eine Menge an Geschichten, zumindest hier in Frankfurt. Und Hoffnung auf eine gute Mischung: neues Wohnen, eingebettetes Museum und engagierte kulturelle Produktion, zusammen wirksam. Am Rande sei ein zugehörige kulturhistorische Episode erwähnt, die kaum jemand mehr kennt: diese Metallfabrik unterhielt bis vor ca. 20 Jahren noch eine der besten öffentlichen Fachbibliotheken unserer “Metropolenregion”, einfach so für die Bewohner an der Wittelsbacher drum herum benutzbar – man stelle sich dagegen die Bitte um Einlaß wegen guter öffentlicher Bildungsangebote in der feisten Commerzbankzentrale Frankfurt-Innenstadt vor. Anfang der 90er war mit all dem Schluß im Ostend.

Das Areal der Naxos selbst ist eigentlich klein, und tatsächlich nur eine Art Vorposten zu einem großen Industrieareal, dass insgesamt Anfang der 90er entschwand, die Metallverarbeitung und Apparatefertigung des Frankfurter Ostens. Dieser metallene Frankfurter Produktions-Osten ist fast völlig vergessen, und das obwohl er bis zu 15.000 Leute in unzähligen Mittelbetrieben beschäftigte und bis heute die große Struktur des östlichen Frankfurts prägt.
Am Montag beginnt wie alljährlich die Woche der “Route der Industriekultur RheinMain”. Sie kennt zwar unzählige Plätzchen in und vor Frankfurt, und seien die Industrie-Objekte auch noch so klein, nicht aber den Frankfurter Osten. Er ist halt nicht so leicht zugänglich, erfordert Kenntnis, Aufmerksamkeit und Erkundungswillen, geriert sich weniger offen für Eventbesuche, zeigt allerdings besonders interessante Komponenten unserer Stadtgeschichte und Stadtstruktur. Im Folgenden wird das ein Stück weit erschlossen.

Der industrielle Osten hatte als Hauptachse die Hanauer Landstraße und wurde im Nordosten von Seckbach begrenzt: Ostend, Riederwald, Fechenheim, Bornheim und Enkheim waren die weiteren bewohnten Grenzen des Gebiets. Neben der Hanauer war die zweite Achse der Betriebe die Borsigallee mit den großen alten Namen westlicher Industrialisierung: Friesstrasse, Flinsch, Krupp, Edison, Mergenthaler. Sie sprechen für sich, die Premier League der technischen Unternehmer. Entsprechend sahen die angesiedelten Unternehmen aus, im Riederwald nebenan wohnten viele Leute daraus. In der Mitte des Areals dann die Wächtersbacherstrasse, parallel zur Hanauer, tiefer rein die Orber entlang stehen noch viele alte Gebäude – wie in der Friesstrasse mit den Backsteinbauten und dem Kopfsteinpflaster. In der Gwinnerstrasse haben sich immerhin Reste von Lurgi erhalten, einem Überbleibsel der zerfallenen legendären Frankfurter Metallgesellschaft des Wilhelm Merton (ja, genau der mit der Uni und dem neuen Viertel).
Zurück zur Hanauer: den Eingang zum Industriegebiet bildete die Großmarkthalle, gegenüber auf der anderen Mainseite lag der Schlachthof. Hier wurden die “Solitäre” mit den gehobenen Eigentumswohnungen – “Wohnen am Main” – zuerst gebaut, nach dem Offshore der Fleischproduktion ins klandestinere und billigere Umland. In der Mitte steht noch heute die damals errichtete Güterzug-Gleisanlage, am südlichen Rand ergänzend der Ost-Hafen: entsprechend gestaltete sich die Infrastruktur und die betrieblichen Anschlüsse für Rohstoffe und Fertigprodukte, Gleise gingen quer bis zum Main und nach Fechenheim, aber auch nördlich in den Riederwald, Reste gibt es heute noch. Von der Großmarkthalle aus nach der Brücke zum Ostbahnhof steht etwas verloren das Hochhaus: “Mannesmann” hieß der Eingang ins Produktionsparadies, die riesigen Lettern entfernte man erst nach der Vodafone-Übernahme vor einem Jahrzehnt.
Dahinter zum Hafen hin lagen die Firmen mit der Rohstoffverarbeitung, Thyssen Recycling wurde erst vor ein paar Jahren geräumt. Dann folgte grobe Blechverarbeitung hinter der Honsellbrücke, zuletzt stand dort die Halle von British Steel. Auf der Hanauer selbst, gegenüber des unvermeidlichen Gref Völsing mit seinen Rindswürsten, waren die Metallhändler, mittlere Apparatebauer für medizinische Geräte, daneben das grosse Siemenswerk für Schaltanlagen, bis in die 70er. Das alte Eingangsgebäude steht auch noch, jetzt bietet Karcher dahinter Rohstoffe für den Hausbau. Die Brauerei ein Stück weiter steht immer noch, sie präsentiert neben Gref Völsing den einzigen markanten Ort der Route der Industriekultur im Frankfurter Osten. Diese Auswahl passt vermutlich am besten zur heutigen Wahrnehmung des Gebiets.
Hinter dem Kreisel zur Autobahn kam rechts das große Werk von Messer Griesheim, Behälter- und Maschinenbau, abgerissen zu Beginn des New Economy Hypes der 90er. Die ehemalige Konzernzentrale steht immer noch: das triste Hochhaus an der nächsten Querstrasse; die Familie Messer beherrschte jahrzehntelang die städtische Firmenpolitik, mit Messer als IHK-Vorsitzender. Die ganze Reihe gegenüber waren Metallhalbzeug-Händler und Kleinfertiger, genau da, wo jetzt die Metall-Kunststoffprodukte, die Autos in den Autohäusern Spalier stehen. Am Ende dieser Reihe war die Fertigung von Golde (Rockwell), ironischerweise ein Fahrzeugzulieferer. Der Betrieb wurde noch in den 80ern von Arbeitern besetzt (ja, das gab es mal in Deutschland, gar in Frankfurt), als seine vorletzte Schließung angekündigt war, auch hier war Ende der 80er Schluß. Allein diese beiden Betriebe beschäftigten weit über 1000 Leute, Jahrzehnte lang, selbst im Web kann man jetzt keinen Hinweis mehr darauf finden. Deren Produkte braucht man immer noch, sie kommen aber heute von Offshore, dem Industriegebiet im Nirgendwo. Danach, hinter Neckermann das große Casella-Werk mit ehemals mehreren 1000 Beschäftigten. Heute gibt es noch Reste der Produktion, zusammengelegt mit Offenbach (!), verbunden über eine eigene Mainbrücke.
Als eine der ganz wenigen Fertigungs-Firmen steht noch Samson in der Mitte der Hanauer und einige Unternehmen in der Parallele zur Hanauer, besonders in der Orber Strasse.

Was kam danach? Konsum, Dienstleistung und Events prägen die Hanauer, Konsum und Dienstleistung mit wenigen Ausnahmen die anderen Gebiete. Dazu Logistik in großem Umfang. Die Waren von Offshore müssen schließlich rein, damit wir drankommen. Die Güteranlagen der DB haben also noch Verwendung gefunden. Sonst hauptsächlich Märkte, Baumärkte, Autohäuser und Clubs aller Art, Speditionen zuletzt ein Einkaufszentrum.
Die Stadtteile drum herum, besonders Riederwald und Fechenheim liegen wie verlorene, ausgetrocknete Inseln im Konsum-Paradies, haben ihre Funktion als richtige Kommunen der Fabrikarbeiter verloren. Viele der Jobber in den Märkten werden von ausserhalb reingekarrt, in den Kneipen arbeitet man auf die Hand, die Putzkolonnen wie Kassiererinnen haben sowieso Minijobs. Dem entspricht eine individualisierte, fragmentierte Öffentlichkeit, die zum jetzigen Osten passt, aber dort nicht die Ressourcen für laufenden Konsumzugang hat. Die Stadtteile am Rande sind nicht so heimelig wie das nette Nordend oder Bornheim, keine Kneipen, kein Bermemer Mittwoch, wenig Zusammenhalt, aber oft billiger zu mieten.

Der Frankfurter Osten wälzte sich in den letzten 30 Jahren von “primärer Produktion” um zu Konsum, Dienstleistungen und Events, sie wirken als “sekundäre Produktion” einer Stadt wie Frankfurt. Sekundäre Produktion bietet die notwendige Ergänzung, einen mittelständischen Boden zum schönen Finanzspektakel der Innenstadt und Frankfurts Westen. Deshalb passt es ausgezeichnet, dass in Zukunft die Europäische Zentralbank anstelle der Großmarkthalle sowie die Solitär-ETWs das Eingansgportal von der Innenstadt zum Osten bilden. Sie symbolisieren angemessen den Übergang von Geld und Immobilien zu Einkauf und Event, verbunden durch die Werbewirtschaft in der Hanauer als “kultureller” Dienstleistungssektor.

Eine kritische Frankfurter Route müsste solche Dynamik der Stadt, ihre unterirdischen Ströme erkunden und nicht zu viel auf Konsum und Events setzen wie es gängige bildungsbürgerliche Besichtigungen anbieten. Die auf regionale Eigenwerbung im modischen Städtewettbewerb setzende “Route der Industriekultur” ist dazu vermutlich prinzipiell nicht in der Lage.
Vielleicht bleibt das Naxosgelände eine kleine, sprudelnde Quelle nahe der Innenstadt, die jetzige Hanauer verspricht wenig Erfindung in solchem Geist – entgegen all dem “Creative” Hype. Sie kann sich dann weiter auch den tiefer liegenden Schichten der Stadt widmen, besonders wenn sie im Web unerreichbar sind und in offiziösen Routen nicht vorkommen. Das Team um Willi Praml zum Beispiel bietet dafür sicher gute Voraussetzungen.

von gaukler am 08.08.2010

Quelle: Frankfurter Gemeine Zeitung

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