Zwei Urteile des Gerichtshofes der EU zu Asylverfahren

erstellt von Pro Asyl — zuletzt geändert 2017-07-27T12:16:10+02:00
PRO ASYL: Der EuGH bekennt sich zum Status quo des funktionsuntüchtigen Dublin-Systems.

Urteil des Gerichtshofes der EU zur Frage, welcher Staat für Asylverfahren während der »Flüchtlingskrise« zuständig war

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hatte heute über eine in Teilen historische, in anderen Teilen höchst aktuelle Frage zu entscheiden. Gerichtshöfe Sloweniens und Österreichs hatten die Frage vorgelegt, ob die Einreise von Flüchtlingen, denen die kroatischen Behörden mit der Weiterbeförderung per Bus bis an die slowenische Grenze geholfen hatte, als legal im Sinne der Dublin-III-Verordnung anzusehen sei. Weiter stand zur Debatte, ob die Haltung der kroatischen Behörden der Erteilung eines Visums gleichgekommen sei. Slowenien und Österreich waren der Ansicht, dass die Einreise nach Kroatien illegal gewesen sei, sodass kroatische Behörden die Anträge auf internationalen Schutz hätten prüfen müssten.

Der EuGH folgt mit seinem heutigen Urteil weitgehend der Rechtsauffassung Österreichs und Sloweniens. Eines der zentralen Argumente: Würde man die Einreise, die ein Mitgliedstaat unter Abweichung der grundsätzlichen Einreisevoraussetzung aus humanitären Gründen gestattet, nicht als illegales Überschreiten der Grenze ansehen, würde dies bedeuten, dass dieser Mitgliedstaat nicht für die Prüfung der Anträge auf Schutz zuständig wäre. Dies wäre mit der Dublin-III-Verordnung unvereinbar. Staaten, die aus humanitären Gründen die Einreise gestatteten, könnten grundsätzlich nicht ihrer Zuständigkeit enthoben werden, so der EuGH.

Die juristischen Argumente sind eher dünn. Sie weichen auch in wesentlichen Teilen vom Antrag der Generalanwältin Sharpston ab, die für die historisch einmalige Ausnahmesituation der Jahre 2015/16 juristisch gut begründete Argumente für einen Übergang der Zuständigkeit vorgetragen hatte.

Der EuGH verteidigt in seiner Auslegung den »Besitzstand« der Staaten im Zentrum der EU - zulasten der Flüchtlinge und zulasten der Staaten an den EU-Außengrenzen. Letztere haben über viele Jahre hinweg die Hauptlast des Dublin-Systems getragen – angesichts des Mangels an europäischer Solidarität bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten und darüber hinaus. Der EuGH argumentiert wenig überzeugend, dass es nicht ausschlaggebend sei, dass das Überschreiten der Grenze in einer Situation erfolgt sei, in der es außergewöhnlich hohe Ankunftszahlen Schutzsuchender gegeben habe.

Kein wirklicher Ausgleich ist es, dass der Gerichtshof, der dem maroden Dublin-System seinen Segen gegeben hat, darauf hinweist, dass die Aufnahme von Asylsuchenden ja dadurch erleichtert werden könne, dass die anderen EU-Staaten – einseitig oder abgestimmt – »im Geist der Solidarität« von der Möglichkeit Gebrauch machen könnten, auch dann Schutzersuche zu prüfen, wenn sie formal nicht zuständig sind. Genau dies klappt ja seit langem ebenso schlecht wie es eine europäische Solidarität bei der Aufnahme und Umverteilung von Flüchtlingen aus den Randstaaten der EU gibt. Und weitere Verschlechterungen stehen an: Mit dem Wegfall des Selbsteintrittsrechts und der Zuständigkeitsregelung nach Fristablauf durch die geplante Dublin-IV-Reform werden gerade die Instrumente, die eine Solidarität und humanitäre Aufnahme ermöglichen, gestrichen, was das Urteil des EuGH für die Zukunft ad absurdum führt.Der Gerichtshof geht mit seinem Urteil deshalb an der aktuellen Realität der Krise der europäischen Flüchtlingssolidarität ebenso vorbei wie an der historischen Sondersituation der Jahre 2015/16.

Staaten wie Italien und Griechenland sehen sich weiter alleingelassen. Das Gericht hat sie aufs Betteln um die humanitäre Einsicht anderer EU-Staaten verwiesen. Der Gerichtshof hätte stattdessen die Tür öffnen können für eine zukunftsträchtige Interpretation europäischer Solidarität und Zuständigkeitsregelungen, wie ihn die Generalanwältin vorgeschlagen hatte.

 

Gerichtshof der Europäischen Union zu den Fristen im sogenannten Dublin-Verfahren

PRO ASYL: Engere Grenzen für das Behördenhandeln – mehr Klarheit für betroffene Asylsuchende

In einem zweiten Urteil vom heutigen Tage hat sich der EuGH mit den Fristen im Dublin-Verfahren beschäftigt und entschieden: Ein Asylsuchender kann sich vor Gericht darauf berufen, dass ein Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, dann für die Prüfung seines Asylantrags zuständig geworden ist, wenn die Frist von drei Monaten abgelaufen ist, innerhalb derer dieser einen anderen Mitgliedstaat um Aufnahme ersuchen konnte. Die Frist beginnt nicht erst dann zu laufen, wenn die Behörde von einem »förmlichen« Asylantrag ausgeht. Der EuGH entschied, dass es genügt, dass der zuständigen Behörde, also etwa dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, ein Schriftstück zugegangen ist, das die Schutzsuche bestätigt.

Mit seiner Entscheidung hat der EuGH die subjektiven Rechte von Asylsuchenden im Rahmen der Dublin-Verordnung bestätigt und einigen willkürlichen Behördenpraktiken einen Riegel vorgeschoben.

Der EuGH hatte die Rechtssache auch vor dem Hintergrund eines deutschen Falles zu entscheiden. Ein im September 2015 eingereister eritreischer Asylsuchender hatte bei seiner Meldung bei einer Behörde in Bayern um Asyl nachgesucht und eine entsprechende Bescheinigung erhalten. Mit großer Verspätung konnte er am 22. Juli 2016 einen förmlichen Asylantrag stellen. Erst am 19. August 2016 hatte das Bundesamt die italienischen Behörden ersucht, den Asylsuchenden gemäß der Dublin-III-Verordnung aufzunehmen und im November den Asylantrag wegen der Zuständigkeit Italiens abgelehnt.

Der EuGH hat nun klar zugunsten des Betroffenen und damit auch gegen die deutsche Auffassung entschieden, erst die vom Bundesamt als förmlich angesehene Asylantragstellung löse den Beginn der Frist aus. Das dürfte für eine nicht geringe Zahl von Asylsuchenden in Deutschland bedeutsam sein. Insbesondere in den Jahren 2015 und 2016 bestand in vielen Fällen zwischen dem Asylgesuch, der Ausstellung einer ersten Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender bis zur formellen Asylantragstellung ein langer zeitlicher Abstand. Betroffene, die bisher trotz dieser Tatsachen noch in ein anderes EU-Land überstellt werden sollen, dürften nun gute Chancen haben, dass über ihren Antrag in Deutschland entschieden werden muss. Für manche Betroffene gehen sehr lange Hängepartien damit zu Ende.

Pro Asyl, Presseerklärungen, 26. Juli 2017