Straßenzeitung Soziale Welt auf neoliberalem Kurs

erstellt von Henning Böke — zuletzt geändert 2007-10-07T03:22:29+01:00
<p>Endlich, endlich, nach einem Dreivierteljahr konnte der nette Mann aus dem Obdachlosenwohnheim Rudolfstraße, der an der Ecke vor dem Penny-Markt immer die Obdachlosenzeitung Soziale Welt verkauft, mir eine neue Ausgabe anbieten – die letzte war voriges Jahr kurz vor der Bundestagswahl erschienen.<p>
Es scheint, dass nicht nur finanzielle, sondern auch personelle Probleme in der Redaktion des vom Verein Frankfurter Armutsaktie e.V. herausgebenen Blattes die lange Verzögerung verursacht haben. Die »unabhängige Frankfurter Straßenzeitung« wird von Obdachlosen verkauft, die daran ein wenig verdienen.

Mit der Nummer 42 hatte im September 2005 der neue Chefredakteur Rüdiger Stubenrecht einen Relaunch vorgenommen, wobei er über seinen Vorgänger nur Schlechtes zu sagen wusste. Als Aufmacher diente damals eine Lobhudelei auf den gerade mit dem Hessischen Friedenspreis ausgezeichneten Dalai Lama. Kein Wort darüber, wie im vom bösen »chinesischen Drachen« so furchtbar unterdrückten Tibet traditionell beispielsweise mit behinderten Menschen umgegangen wird (sie gelten im Volksglauben als vom Karma gestraft und werden entsprechend behandelt), kein Wort über die Leistungen der Volksrepublik China zur Bekämpfung der Armut in Asien, wovon auch Tibet profitiert. Sollte man von einer Zeitung, die beansprucht, für die Schwächsten einzutreten, nicht einen etwas klareren Blick erwarten?

Aber es kommt noch ärger. Der Inhalt der vorletzten Ausgabe war ein völlig zusammenhangloses und widersprüchliches Sammelsurium aus interessanten Beiträgen, die aus fremden Quellen übernommen wurden, zum Beispiel über Porto Alegre und das Weltsozialforum, gemischt mit Belanglosigkeiten und Schwachsinn wie einer Huldigung an Petra Roth. Besonders unangenehm fielen die Artikel des Chefredakteurs Stubenrecht auf, der nun die aktuelle Ausgabe Nr. 43 trotz laut Impressum neunköpfiger Redaktion weitgehend allein geschrieben hat. Der Mann will sich wohl als eine Art Hans-Ulrich Joerges der Obdachlosen profilieren. Denn ganz wie im Stern und ähnlichen Magazinen bedeutet sozial engagierte Gesellschaftskritik à la Stubenrecht, heftig in die neoliberale Trillerpfeife zu pusten, um »engagierte Bürger« auf Trab gegen den verpennten Staat zu bringen.

Nach Stubenrecht liegt das Übel unserer Gesellschaft nicht in etwa einem System, das als »Arbeit« und »Produktivität« genau das definiert, was Profit erzeugt, weshalb notwendigerweise immer zumindest ein paar Leute als unproduktiv und unbrauchbar aussortiert werden und im ungünstigsten Fall auf der Straße landen. Sondern er wähnt es darin, dass unproduktive Behördenapparate und öffentliche Dienste, angeblich von der Politik begünstigt (da lachen ja die Hühner), »dem Bürger« hemmungslos »das Geld aus der Tasche ziehen«, um es zu verjubeln, statt es für den »Ausbau der Wirtschaft« zu verwenden. Das Verlangen nach Senkung der Staatsquote bildet das Grundmotiv, das mit kraftvoller Rhetorik mannigfach kontrapunktiert wird: Gewerkschaftliche Forderungen wie die nach einem Mindestlohn werden als »hirnlos« diffamiert. Hinzu kommt eine Parteien- und Politikerschelte, die, statt die wirklichen Auftraggeber und Nutznießer des bürgerlichen Politikzirkus beim Namen zu nennen, die Halluzination verbreitet, die Parteien seien willfährige Werkzeuge eines parasitären Beamtenapparats (»üble Schnarchsäcke«).

Es ist leider wahr, dass dieses stockreaktionäre Weltbild des aufgekratzten Kleinbürgers in pauperisierten und marginalisierten Unterschichten einen gewissen Nährboden findet. Umso wichtiger wäre es, dass eine Obdachlosenzeitung hier einen klaren Trennungsstrich zieht.

Ich gebe mein Geld selbstverständlich nicht für Stern, Focus und ähnliche Schundhefte der neoliberalen Meinungsindustrie aus. Schwierig wird es für mich, wenn ich den netten Mann aus dem Obdachlosenheim unterstützen möchte, ihm dafür aber eine als »soziales Projekt« angelegte Zeitung abkaufen muss, die den gleichen Schrott verbreitet. Da gebe ich ihm die 1,80 Euro lieber einfach so. An die Redaktion der Sozialen Welt, in der auch ein paar Leute sitzen, die klüger sind, richte ich auf diesem Wege den Appell: Gebt eurem Chef ein Bier aus und sorgt dafür, dass er seine Stammtisch-Ansichten da loswird, wo sie hingehören. Oder schlagt von mir aus vor, dass er sonntags immer in den ARD-Presseclub eingeladen wird – da fällt er nicht allzu sehr aus dem Rahmen. Aber bewahrt doch bitte die Frankfurter Obdachlosen davor, den neoliberalen Bockmist dieses reaktionären Dummschwätzers verkaufen zu müssen.