Afghanistan: Gerichte stoppen zunehmend Abschiebungen aufgrund der Pandemie

erstellt von Pro Asyl — zuletzt geändert 2021-03-09T14:24:59+01:00
PRO ASYL protestiert mit Nachdruck gegen die Realitätsverweigerung der Innenminister einiger Bundesländer und fordert, den angesetzten Abschiebeflug nach Afghanistan zu stoppen.

»Es ist unerträglich, dass die Innenminister einiger Bundesländer ungeachtet der Lage und mit stoischer Gleichgültigkeit Abschiebungen durchziehen«, so Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL.

PRO ASYL hat wiederholt dargelegt, dass die Sicherheitslage katastrophal ist und es in Afghanistan keine sicheren Gebiete gebe, in die Geflüchtete zurückkehren könnten. Hinzu kommt die Pandemie, der zunehmend Gerichte, nicht aber die abschiebewilligen Behörden, Rechnung tragen.

Manche Abschiebungen werden von Gerichten in letzter Minute gestoppt, andere nicht. Es hängt oft vom Zufall ab, ob ein Afghane, der überfallartig zum Zwecke der Abschiebung verhaftet wird, einen Rechtsbeistand findet. Dieser wiederum muss dann noch das Glück haben, auf ein Gericht zu treffen, das den Mut hat, dem Druck der Innenminister standzuhalten, und den Fall erneut aufrollt um die Abschiebung in letzter Minute zu stoppen. »Genau deshalb müssen die Innenministerien endlich handeln und die Abschiebungen stoppen«, fordert Burkhardt.

Die afghanische Bevölkerung leidet enorm unter den wirtschaftlichen
Folgen der Pandemie. Nichtsdestotrotz wurde eine pandemiebedingte Unterbrechung von Abschiebungen in das Bürgerkriegsland nach wenigen Monaten im Dezember 2020 wieder aufgehoben. Insgesamt wurden 989 Menschen seit 2016 in das Bürgerkriegsland abgeschoben.

Hohe Gerichte stoppen Abschiebungen aufgrund der Pandemiesituation

Der
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg erkennt an, dass aufgrund der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan es auch für junge, gesunde Rückkehrer derzeit nur möglich ist, ein Existenzminimum zu erwirtschaften, wenn begünstigende Umstände vorliegen. Das Gericht sieht abgeschobene Personen ohne die Unterstützung eines familiären oder sozialen Netzwerks aktuell nicht in der Lage, eine Beschäftigung auf dem Tagelöhnermarkt zu finden, um sich ein Existenzminimum zu erwirtschaften. Die wenigen verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten werden nach Erkenntnissen des Gerichts in der Regel über persönliche Beziehungen vergeben. Der Aufbau eines Netzwerks aus eigener Kraft sei hingegen äußerst unwahrscheinlich.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit
Beschluss vom 09.02.2021 im Rahmen einer einstweiligen Anordnung die Abschiebung eines von der Sammelabschiebung am gleichen Tage betroffenen drogenabhängigen jungen Mannes nach Afghanistan untersagt. Laut Bundesverfassungsgericht wurde vom zuständigen Verwaltungsgericht die aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG resultierende Aufklärungspflicht für die Situation von Rückkehrern verletzt. Denn das Verwaltungsgericht habe sich nicht damit beschäftigt, wie sich die Covid-19-Pandemie auf das afghanische Gesundheitssystem auswirkt, auf das es den Betroffenen im Hinblick auf dessen Drogen- und Substitutionstherapie aber gleichzeitig verweist. Außerdem habe sich das Verwaltungsgericht nicht mit den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die wirtschaftliche Situation in Afghanistan auseinandergesetzt.

Auswärtiges Amt sieht ohne Nennung von Gründen verbesserte Lage

Afghanistan wurde am 31.01.2021 vom Robert-Koch-Institut (RKI) als »
Hochinzidenzgebiet« – also als Gebiet mit besonders hohem Infektionsrisiko durch besonders hohe Inzidenzen für die Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV‑2 – eingestuft. In den Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amtes (AA) hieß es vor diesem Hintergrund: »Afghanistan ist von COVID-19 besonders stark betroffen. Das Gesundheitssystem hält den Belastungen nicht stand« (aus der Afghanistan-News vom 08.02.2021).

Nun hat das AA die Einschätzung geändert und formuliert ohne Nennung von Gründen nur noch: »Mit Wirkung vom 21. Februar 2021 gilt Afghanistan nicht mehr als Hochinzidenz-, sondern als
Risikogebiet.« PRO ASYL fordert das RKI und das AA auf, offen zu legen, wie sie innerhalb einer so kurzen Zeit zu dieser Änderung der Lageeinschätzung kommen.

Pro Asyl, Presseerklärung, 09.März 2021