Der kommunale BDS-Beschluss in Frankfurt:

Chronik eines Verfassungsbruchs

Klärung einer seit langem geklärten Rechtsfrage:

Das Urteil des Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) und seine Begründung, zu einem in München durch die Stadt verhängten, mit dem kommunalen BDS-Beschluss begründeten Raumverbot, ist nur für jene eine Überraschung, die sich seit vier Jahren weigerten ins Grundgesetz zu schauen bzw. sich mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Art. 5 GG (Meinungsfreiheit) vertraut zu machen. Die grundlegenden rechtlichen Fragen zu diesem Thema sind seit Jahrzehnten geklärt. Diese Klärungen waren mehr als ausreichend, um die Verfassungswidrigkeit des BDS-Beschlusses zu erkennen auch ohne eine erneute Befassung durch das BVerwG.

Eine Minderheit in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung (StVV) hat dies auch erkannt. Der Magistrat und die Mehrheit der StVV hat Grundgesetz und Gerichtsentscheidungen missachtet. Dies wider besseres Wissen oder durch Unterlassung, weil man nichts unternahm, um eine Klärung herbeizuführen.

Die Verwaltung ist an Recht und Gesetz gebunden. Magistrat und StVV setzten sich darüber hinweg.

Für Frankfurt gilt: Die überwiegende Mehrheit der StVV, der Magistrat mit Oberbürgermeister (OB) Feldmann an der Spitze haben es unterlassen das kommunale Verwaltungshandeln unter dem Gesichtspunkt seiner Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Allein die FDP-Fraktion, repräsentiert durch ihren rechtspolitischen Sprecher Dr. Uwe Schulz, hat von Anfang an die Rechtswidrigkeit des BDS-Beschlusses mit konkreten juristischen Argumenten dargelegt und diese Position bis heute beibehalten. Sie hat sich als einzige kommunale Partei in Frankfurt in dieser Frage verfassungskonform verhalten und die Verfassung verteidigt.

Der Frankfurter BDS-Beschluss wurde im September 2017 mit der „Maßgabe“ gefasst auch dessen Rechtmäßigkeit zu klären und der Stadtverordnetenversammlung (StVV) darüber zu berichten. Dafür zuständig war Dezernent Uwe Becker. Er bekundete bei Beschlussfassung, das Rechtsamt habe dies abgeklärt mit dem Ergebnis, der Beschluss sei „rechtlich und handwerklich in Ordnung“. Einen Beleg dafür hat er nie präsentiert, einen Bericht zur Rechtmäßigkeit gemäß Maßgabe nie vorgelegt.

Im Oktober 2019 drohte Uwe Becker dem Club Voltaire mit dem Entzug städtischer Fördermittel, weil dieser mit anderen Gruppen eine Diskussionsveranstaltung (Thema: „Meinungsfreiheit statt Zensur“) im Titania-Theater ausrichtete. Becker sprach von einem „Sympathisanten-Treffen der antisemitischer Israelhasser“. Zwei Teilnehmer der Podiumsdiskussion sympathisierten mit der BDS-Bewegung, darunter Judith Bernstein, die in ihrer Familie Holocaust-Opfer zu beklagen hat. Frau Bernstein würde, so Becker, „Land auf und Land ab touren und nichts anderes machen, als israelbezogenen Antisemitismus“ verbreiten.

Gezielte Missachtung unseres Grundgesetzes und der Justiz durch Uwe Becker und den Frankfurter Magistrat

Bis zu einer Anfrage der FDP-Fraktion an den Magistrat am 2.12.2019 gab es aus den Reihen der StVV keine Initiative um von Herrn Becker die Klärung der offenen Rechtsfragen einzufordern. Die Antwort (vom 4.5.2020) ist in allen die Grundrechte betreffenden Fragen (den Fragen 3-6) juristisch substanzlos:

Die alle vier Fragen zusammenfassende Antwort lautet:

Die Raumvergabe bei städtischen Räumen (…) muss immer unter Beachtung des geltenden Rechtes und der Einbeziehung der aktuellen Rechtsprechung erfolgen. Insofern findet auch die Anwendung des BDS-Beschlusses Rahmen gültigen Rechts statt. Der Magistrat muss Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes immer beachten und diese in der Verwaltungspraxis berücksichtigen bzw. umsetzen. Die Kommentierung einzelner Gerichtsentscheidungen ist nicht zielführend, da diese keine Frankfurter Einzelfälle betreffen.“

In den Fragen 3-6 wird ausnahmslos direkt oder mittelbar (durch den Verweis auf Gerichtsentscheidungen) auf den Widerspruch des BDS-Beschlusses zu „Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes“ verwiesen.

Die Antwort ist formal ein Beschluss des Magistrats, unterschrieben von OB Feldmann und mitverantwortet unter anderem – neben Uwe Becker – von den Dezernentinnen Dr. Hartwig (Kultur / u.a. zuständig für die städtische Saalbau) und Prof. Dr. Birkenfeld (zuständig für Recht).

Nach dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (17.11.2020), der Vorinstanz des BVerwG im Münchner Verfahren, forderte Dr. Schulz den Magistrat am 24.11.2020 auf darzulegen, welche Auswirkungen sich daraus für die Raumverbotspraxis in Frankfurt ergäben. Die Antwort wurde auf kaltem Weg durch einen Verfahrenstrick „erledigt“. Der Vorgang kam ca. fünfmal auf die Tagesordnung, jeweils ohne in der Sache behandelt zu werden. Dabei hatte man zwar nicht das Grundgesetz, wohl aber die GOS (Geschäftsordnung der StVV) fest im Blick. Nach § 21 der GOS gelten Anträge aus der StVV, „zu denen noch kein Beschluss gefasst wurde“ mit deren Auflösung (Kommunalwahl war März 2021) als erledigt.

Am 4.12.2021 hob der Hessische Verwaltungsgerichtshof ein Raumverbot per Beschluss auf. Diesmal ging es um einen Frankfurter Einzelfall, nämlich um die Räumlichkeiten der städtischen Saalbau Südbahnhof. Begründung des Gerichts: Der BDS-Beschluss stelle sowohl einen unzulässigen Eingriff in die Meinungsfreiheit (Art 5 I S. 1 GG) dar, als auch einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art 3 I GG).

In einem Brief (21.1.2021) an OB Feldmann informierte Dr. Schulz das Stadtoberhaupt über das Urteil des höchsten Hessischen Verwaltungsgerichts:

Die von der Stadt ausgeübte Praxis, die insbesondere von Herrn Bürgermeister Becker politisch vorangetrieben wird, stellt eine gezielte Missachtung unseres Grundgesetzes und der Justiz dar. Die Verwaltung, so auch der Magistrat, ist an Recht und Gesetz gebunden. Ich wäre Ihnen deshalb sehr verbunden, wenn Sie sich in dieser grundrechtsrelevanten Frage einschalten und auf eine zukünftig verfassungskonforme Verfahrensweise hinwirken.“

Zuvor schon (28.12.2020) hatte Dr. Schulz die für die Saalbau zuständige Kulturdezernentin Hartwig auf die Rechtslage hingewiesen: Das Raumverbot stelle einen „gezielten Verstoß gegen das Grundgesetz“ dar.

Dr. Schulz spricht von einer gezielten, also bewussten, in Kenntnis seiner Verfassungswidrigkeit dennoch umgesetzten Verwaltungspraxis der Stadt Frankfurt. Dies geschah unter der politischen Verantwortung von OB Feldmann und unter Federführung von Bürgermeister Becker. Es geht hier um einen zynisch und mutwillig fortgesetzten Verfassungsbruch über einen Zeitraum von vier Jahren. Die Rechtswidrigkeit des BDS-Beschlusses war von Anfang an erkennbar, weil die Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit seit Jahrzehnten geklärt ist.

Im Rahmen einer Fragestunde der StVV (28.1.2021) fragte Dr. Schulz auf den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshof Bezug nehmend:

Hält es der Magistrat für angemessen, in einer verfassungswidrigen Weise zu agieren, und wie soll die Handhabung in der Zukunft erfolgen?“.

Die Antwort Uwe Beckers: „der Magistrat agiert selbstverständlich auf Grundlage und unter Beachtung von Recht und Gesetz, in der Vergangenheit, heute und auch in Zukunft“.

Was Uwe Becker hier zum Ausdruck bringt: Der Hessischen Verwaltungsgerichtshof kann sagen was er will. Der Frankfurter Magistrat hat keine Veranlassung sich zu korrigieren, den er hielt sich an Recht und Gesetz – auch in der Vergangenheit.

Zwei Wochen später, am 10.2.2021 erhielt Dr. Schulz einen Brief von Frau Birkenfeld. In ihrer Eigenschaft als Rechtsdezernentin habe sie der OB Feldmann zuständigkeitshalber gebeten den Brief vom 21.1.2021 zu beantworten. Der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichts sowie das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs habe man Dezernent Becker „mit der Bitte um Beachtung zur Kenntnis gegeben.“

Organisierte Verantwortungslosigkeit des Magistrats angesichts eines grundrechtsrelevanten Vorgangs

So sah die organisierte Verantwortungslosigkeit in dem von OB Feldmann geführten Magistrat angesichts eines grundrechtsrelevanten Vorgangs aus: Der wohl begründete Hinweis eines Parlamentariers auf die gezielte Missachtung von Grundgesetz und Justiz landet beim Dezernenten Becker, versehen „mit der Bitte um Beachtung zur Kenntnis“. Dieser hatte knapp zwei Wochen zuvor noch einmal zu Protokoll gegeben, an der Praxis des gezielten Verfassungsbruchs festhalten zu wollen. Die Antwort Beckers vom 28.1.2021 unterscheidet sich in ihrer Grundgesetz und Justiz gezielt missachtenden Qualität ja nicht von dem Magistratsbeschluss vom 4.5.2020, der die Unterschrift des OB Feldmann trägt. Bei Beckers Antwort ist nur alles unmittelbar einsichtig, wie weiland bei dem „alternativen Fakten“ der Trump-Beraterin Kellyanne Conway. Angesichts eines klaren Foto-Gegenbeweises behauptete diese bekanntlich, bei der Inaugurationsfeier Trumps seien mehr Besucher gewesen als bei Obama. Bei Becker steht der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs neben seiner Behauptung, der Magistrat hält und hielt sich an Recht und Gesetz in der „Vergangenheit, heute und auch in Zukunft“. Bei Conway ging es postfaktischen Zynismus ohne weitere rechtliche Relevanz. Bei Becker geht es um postfaktischen Zynismus im Kontext des Verfassungsbruchs eines Amtsträgers. Dies gepaart mit einer glatten Lüge geradewegs ins Gesicht eines Abgeordneten, dabei unverhohlen den Subtext vermittelnd: „Verfassung und Gerichtsentscheidungen sind hier nicht relevant“.

Bezogen auf den Magistrat insgesamt steht beweisbar klar eine gezielte Missachtung von Grundgesetz und Justiz im Raum. Spätestens mit der Antwort des Magistrats vom 4.5.2020 musste für jedes Magistratsmitglied, auch den Nichtjuristen, evident sein, dass Becker nicht in der Lage war die Raumverbotspraxis verfassungskonform zu begründen. Der Magistrat ist an Recht und Gesetz gebunden. Bei einem grundrechtsrelevanten Vorgang war besondere Sorgfalt und erhöhtes Verantwortungsbewusstsein vor allem auch der politischen Führung geboten. Die Mehrheit der StVV trägt eine Mitverantwortung. Sie zeigte keinerlei Interesse an der Klärung der offenen Rechtsfragen bzw. der Beendigung der verfassungswidrigen Verwaltungspraxis.

Neben der Verfassung wurden andere Regeln verletzt. Die Antworten des Magistrats kommen einer Verhöhnung des parlamentarischen Fragerechts gleich. Der schuldige kollegiale Respekt gegenüber Stadtverordneten, die von diesem Recht Gebrauch machten, ließ nicht nur Becker und der Magistrat vermissen, sondern auch Stadtverordnete, die Dr. Schulz unterstellten, er unterstütze BDS politisch. Dr. Schulz hat für sich und seine Partei wiederholt klargestellt, für das politische Programm von BDS keinerlei Sympathien zu hegen.

Klammheimliche Entsorgung des Frankfurter BDS-Beschlusses nach der Kommunalwahl 2021

Nach der Kommunalwahl im März 2021 vereinbarte die neue kommunale Regierungskoalition den Beschluss außer Vollzug zu setzen, ohne dies öffentlich zu kommunizieren. Auch die jüdische Gemeinde wurde nicht informiert. Sie ging noch im November 2021 in einem Brief an die Städelschule von der irrigen Annahme aus, der BDS-Beschluss werde in Frankfurt noch vollzogen. Ob der bis September 2021 noch zuständige Dezernent Uwe Becker informiert war, ist offen. Bemerkenswert ist in jedem Fall: Die größte Stadt Hessens setzte den BDS-Beschluss außer Vollzug und der Landes- Antisemitismusbeauftragte verhielt und verhält sich dazu nicht öffentlich. Für das Schweigen Beckers sind andere Gründe als Informationsmangel denkbar. Der Grund für den Verzicht auf Vollzug liegt in der fehlenden rechtlichen Begründung des BDS-Beschlusses. Den Vollzugsverzicht zu thematisieren, barg das Risiko unangenehmer Weiterungen, bis hin zu Fragen nach dem Wahrheitsgehalt der oben zitierten Einlassung Beckers, das Rechtsamt habe die Rechtmäßigkeit des BDS-Beschluss schon im September 2017 testiert. Nach Indizienlage ergeben sich hier folgende logischen Möglichkeiten: Variante 1: Becker sagte mindestens die Unwahrheit zum Inhalt und/oder zur Existenz eines solchen Testats. Variante 2: Das in den Spitzenpositionen überwiegend mit CDU-Mitgliedern besetzte Rechtsamt bediente Parteifreund Becker mit einem Gefälligkeitsgutachten. Variante 3: Die Volljuristen des Rechtsamts waren gutgläubig, aber überfordert. Ihnen war 2017 unter anderem die seit Jahrzehnten geklärte Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit nicht geläufig und daran hat sich bis 2021 nichts geändert.

Professionelles Verwaltungsgebaren vorausgesetzt, sollte das Testat in schriftlicher Form vorliegen. Also müsste der Vorgang aufklärbar sein. Es geht hier um keine Bagatelle: Im Raum steht unter anderem der Verdacht der Täuschung des Stadtparlaments mit dem Ziel, sich die Zustimmung zum BDS-Beschluss zu erschleichen.

Folgen des Urteils des BVerwG: Kommunale BDS-Beschlüsse stehen in Widerspruch zur Meinungsfreiheit (Art. 5 GG). Ein Gesetz gegen BDS kann es nicht geben: Es wäre verfassungswidrig

Mit dem Urteil des BVerwG vom 20.1.2020 ist klar: Raumverboten, begründet mit BDS-Beschlüssen, wurde bundesweit höchstrichterlich die legale Grundlage entzogen. Das Urteil ist endgültig, eine Revisionsmöglichkeit gibt es nicht.

Nichts anderes als diesen objektiven Sachverhalt hat Dr. Schulz vor und nach dem Urteil des BVerwG konstatiert. Dafür wird er jetzt angegriffen vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde Frankfurts, in dem zwei Juristen sitzen.

Die Judikative erwies sich bisher als die einzige verfassungskonform agierende Instanz in der Auseinandersetzung um die BDS-Beschlüsse. Alle anderen Instanzen haben versagt: Die Politik, die Legislative und Exekutive von den Kommunen bis zum Bund sowie die Medien.

Das Urteil des BVerwG hat keineswegs zu einem Überdenken früherer Positionen bei jenen geführt, die vier Jahre lang kopf- und prinzipienlos in die Sackgasse reingelaufen sind, dabei alle Warnlichter am Wegesrand in Gestalt der Urteile der Vorinstanz des BVerwG und anderer Gerichte (VG Köln, OVG Lüneburg) ignorierend.

Für Uwe Becker war erst noch zu prüfen, inwieweit die – inzwischen vorliegende Urteilsbegründung - „ überhaupt auf Frankfurt übertragbar sei“. Der gelernte Bankkaufmann Uwe Becker weiß offensichtlich nicht, dass Urteile des BVerwG generell bundesweit gelten, ganz unabhängig von ihren Begründungen, fühlt sich aber berechtigt, von einem „fatalen Urteil“ zu reden. So in einem Artikel in der Jüdischen Allgemeinen, wo Becker im Stile eines Oberlehrers seine ignoranten Ansichten zu Rechtsfragen im Kontext von BDS in konzentrierter Form zu Protokoll gab.

Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrat der Juden in Deutschland, Frau Knobloch von der jüdischen Gemeinde Münchens und der Münchner Oberbürgermeister Reiter fordern den Gesetzgeber auf zu handeln.

Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, ein Volljurist, dokumentierte seinen juristischen Sachverstand durch folgende Bemerkungen: Das Urteil des BVerwG sei eine „verpasste Chance“, es handle sich um eine Einzelfallentscheidung hinsichtlich der spezifischen Konstellation in München. "Das bedeutet, Kommunen können weiterhin bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen, BDS-Veranstaltungen in öffentlichen Räumlichkeiten verweigern." In dem von Felix Klein höchstselbst angeregten Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages kommt klar zum Ausdruck: „Gesetzlichen Voraussetzungen“ zur Verweigerung öffentlicher Räumlichkeiten für BDS-Veranstaltungen, kann es nicht geben, sie wären verfassungswidrig. Herr Klein nimmt an öffentlichen, kulturpolitischen Debatten zu Mbembe usw. teil, ist aber nicht in der Lage einen Sachverhalt gedanklich zu erfassen, der im Bereich des Faches angesiedelt ist, das er studiert hat. Grundrechtseinschränkungen sind nur durch ein allgemeines Gesetz möglich, das u.a. dadurch definiert ist meinungsneutral zu sein, sonst ist es kein allgemeines Gesetz. So steht es schwarz auf weiß im Urteil des BVerwG, so stand es schwarz auf weiß im Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes. Herr Klein hat es immer noch nicht begriffen. Er meint auch über Meinungsfreiheit zu verfügen im Widerspruch zu dem Gutachten, dass er angeregt hat. Für all jene, die nicht dem Prinzip huldigen „Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand“, dürfte sich die Frage stellen, wie man – jenseits von Rechtsfragen - der Urteilsfähigkeit eines Bundesbeauftragten vertrauen kann, der als Jurist nach vier Jahren im Amt, für den rechtlichen Rahmen, in dem er sein Amt auszuüben hat, immer noch kein verfassungskonformes Verständnis auszubilden in der Lage war. Das BVerwG verdeutlichte in seiner Presseerklärung, was der Wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestags in dem von Felix Klein angeregten Gutachten schon ein Jahr zuvor ausführlicher darlegte: Ein gegen BDS gerichtetes Gesetz kann es nicht geben, da es nicht meinungsneutral und deswegen verfassungswidrig wäre.

Nach Veröffentlichung der Urteilsbegründung Ende April 2022 sah sich Becker nicht genötigt, die Frage zu beantworten, ob das Urteil auch für Frankfurt gelte, sahen sich die anderen Kritiker des Urteils nicht genötigt sich zu erklären. Niemand hat sie danach gefragt. Der über vier Jahre anhaltende Verfassungsbruch war nur möglich, weil die Medien sich für das Thema nicht interessierten. Sie waren Teil des informellen, die Politik fraktionsübergreifend einschließenden Schweigebündnisses. Insofern die Printmedien in München und Frankfurt das Thema aufgriffen, geschah dies durch Lokalredakteure, die fachlich nicht qualifiziert waren und die im Übrigen jede journalistische Professionalität vermissen ließen. Letzteres manifestierte sich u.a. darin, dass sie fast ausschließlich jene zu Wort kommen ließen, die in diese Sackgasse reingelaufen waren. Fachkundige Juristen wurden nicht gefragt.

Insofern die Kritiker des BVerwG-Urteils insinuieren, der Gesetzgeber habe seine Hausaufgaben nicht erledigt, nicht ausreichend für Rechtsgrundlagen zur Bekämpfung des Antisemitismus gesorgt, hat dies eher mit einem grundsätzlichen Missverständnis hinsichtlich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit im Gefüge unserer Verfassung zu tun, als mit berechtigter Kritik an staatlichen Versäumnissen. In Sachen Antisemitismus wird das Grundrecht auf Meinungsfreiheit in Deutschland stärker eingeschränkt als in anderen Demokratien. Holocaust-Leugnung und das Zeigen von Nazi-Symbolen sind in vielen Demokratien erlaubt und nicht verboten, wie in Deutschland.

In der Demokratie des Grundgesetzes ist es dem Staat verwehrt in den zivilgesellschaftlichen Meinungskampf von oben steuernd und lenkend einzugreifen. Die demokratische Meinungsbildung hat sich „staatsfrei“ zu vollziehen (so das BVerwG in einem anderen Urteil (Az: 10 C 6.16 Rn 28+29). Es ist demnach nicht Aufgabe des Staates eine Gruppe im zivilgesellschaftlichen Meinungsstreit zu begünstigen.

Artikel 5 Grundgesetz setzt auf die Verantwortung der Zivilgesellschaft gruppenbezogene Menschenfreindlichkeit zu ächten

Nach vier Jahren BDS-Beschlüssen hatte jeder Verantwortungsträger in Politik und Zivilgesellschaft hinreichend Zeit und Gelegenheit aber auch die Pflicht, sich den Wesenskern des Grundrechts auf Meinungsfreiheit im deutschen Grundgesetz anzueignen. Wer immer noch einen Zustand selbstverschuldeter Unmündigkeit in zentralen grundrechtsrelevanten Fragen kultiviert, macht sich nicht nur einer gravierenden Pflichtverletzung schuldig, missachtet nicht nur Verfassung, beschädigt nicht nur die Justiz durch Relativierung höchstrichterlicher Urteile, er schadet auch dem Anliegen, um das es vorgeblich geht:

Die Bekämpfung des Antisemitismus kann nur auf einer gesicherten rechtlichen Grundlage mehrheitsfähig und damit nachhaltig sein.

Das Urteil des BVerwG verweist auf einen Aspekt, der den Wesenskern Grundrechts auf Meinungsfreiheit im deutschen Grundgesetz berührt.

Das Grundgesetz

vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien (BVerfG, Beschluss vom 4. November 2009 - 1 BvR 2150/08 - BVerfGE 124, 300 <320>).“

Wer dauernd nach dem Staat und nach Verboten ruft, wo es darauf ankäme die Kraft zur freien Auseinandersetzung auszubilden, schwächt die Befähigung der Zivilgesellschaft sich gegen Verfassungsfeinde aus eigenem Vermögen zu behaupten. Wer gar meint, tatsächliche oder vermeindliche Verfassungsfeinde mit verfassungswidrigen Methoden bekämpfen zu sollen, tut dies ebenfalls. Die juristisch und sachlich substanzlosen Äußerungen der oben genannten Kritiker des Urteils des BVerwG dokumentieren dies. Sie sind Ausdruck einer verkümmerten Debatten-Kultur in Deutschland, wenn es um Israel und Antisemitismus geht.

BDS-Beschlüsse als der bisher klarste Ausdruck eines grundsätzlichen Problems deutscher Nahostpolitik: Der strukturellen Ausblendung der Menschenrechtslage der Palästinenser

Die BDS-Beschlüsse sind hier nur der Endpunkt einer längeren Entwicklung, die zu einer persönlichen und kollektiven Selbst-Provinzialisierung (so Stephan Detjen in der Debatte um kamerunischen Philosophen Achille Mbembe) führt, die auf unterschiedlichen Ebenen Widersprüche produziert und darin ein gravierendes Glaubwürdigkeitsproblem offenbart:

Während die Regierung einerseits den akademischen und kulturellen Dialog mit der südlichen Welt propagiert, treibt sie im Namen des Kampfes gegen den Antisemitismus zugleich eine Selbst-Provinzialisierung voran“ (Zitat Detjen)

In einer Zeit, in der insgesamt fünf renommierte wissenschaftliche Institute dem Staat Israel insgesamt oder bezogen auf die besetzten Gebiete Apartheid attestieren und der Wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestags in einem Teil der besetzten Westbank (den sog. C-Gebieten) eine triftige Indizienlage für Ethnische Vertreibung nach dem Völkerstrafrecht beschreibt, fordert der Koalitionsvertrag der Ampelregierung „Fortschritte bei Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtennur von den Palästinensern, nicht von den Israelis.

Die Bundesregierung lehnt die Befunde des Amnesty-Berichts zu Apartheid in Israel und den besetzten Gebieten zwar ab, begründet dies aber nicht in der Sache, nämlich gestützt auf die Definition im Völkerrecht. Dies obwohl Internationale Abkommen die deutsche Regierung verpflichten Apartheid auch jenseits der eigenen Grenzen zu verurteilen. Wer eine Überprüfung auf sachlicher Grundlage verweigert trotz mindestens triftiger Indizienlage, verstößt nicht nur gegen diese Abkommen. Er nährt auch den Verdacht, dass man sich zu einer sachlichen Widerlegung nicht in der Lage sieht.

Besonders gravierend sind die Glaubwürdigkeitsprobleme im Verhältnis zu Jugendlichen muslimisch-arabischer Herkunft, die weit überwiegend deutsche Staatsbürger sind und die man für den Rechtsstaat gewinnen will:

Der städtische Amt für Multikulturelle Angelegenheiten (AmkA) Frankfurts, ebenso der Frankfurter Jugendring betreiben Projekte zur „Unterstützung des Aufbaus von Jugendarbeit in Moscheen“, unter anderem mit dem Ziel, die Identifikation „mit unserem Leitbild“ zu fördern, sich zu „den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates bekennen, jegliche Form von Diskriminierung abzulehnen und sich am Grundsatz der Gleichberechtigung aller orientieren“. Der rechtspolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Stadtparlament bescheinigt derweil dem Magistrat der Stadt und insbesondere dem zuständigen Dezernenten Uwe Becker in einem Brief vom 21.1.2021 an OB Feldmann „gezielte Missachtung unseres Grundgesetzes und der Justiz“, bei der Umsetzung eines Beschlusses, der die Meinungsfreiheit auch und besonders dieser Jugendlichen einschränkt.

Die Bundesregierung verweigert eine sachliche Begründung ihrer Ablehnung der Befunde zu Apartheid und verweigert damit eine Orientierung angesichts einer mindestens triftigen Indizienlage für Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch und vor allem gegenüber Jugendlichen, die teilweise aus direkt betroffenen Regionen kommen, bzw. gegenüber Altersgenossen:innen die aus kulturellen Gründen mit diesen sympathisieren.

In dem Zitat aus dem Koalitionsvertrag kommt ein zynisches Desinteresse an der Menschenrechtslage der Palästinenser zum Ausdruck. Dies gilt völlig unabhängig davon, ob die Befunde „Apartheid“ und „ethische Vertreibung“ zutreffen, denn die in den Untersuchungen beschriebenen Menschenrechtsverletzungen sind in jedem Fall gravierend genug. Nach den Kriterien die für die Konstruktionen von „israelbezogenem Antisemitismus“ gelten, offenbart sich darin ein bemerkenswerter Fall von „palästinenserbezogenem Rassismus“. Gleichzeitig unternimmt man es im Rahmen des Förderprogramms „Demokratie leben!“ des Bundesfamilienministeriums, Rechtstaatlichkeit und den Grundsatz der Gleichberechtigung jungen Leuten zu vermitteln, die von ihren Angehörigen und Verwandten in den besetzten Gebieten wissen, dass Palästinenser dort seit Jahrzehnten unter Militärrecht leben und nicht einmal einen Hasenstall bauen können, weil sie dafür keine Genehmigung von der Militärverwaltung erhalten.

Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wird gefördert wenn der Staat seiner Integrationsfunktion auf der Basis unserer Verfassung nicht mehr nachkommt, weil er in Folge seiner mit dem Geist des Grundgesetzes in Widerspruch stehenden grundsätzlichen Ausrichtung nicht nachkommen kann.

Merkels Aussage in ihrer Knesset-Rede 2008 „Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes.“

Nach Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik, erfolgte Merkels Aussage weniger um eine substantiell neue Qualität deutscher Israelpolitik anzukündigen, als einer abnehmenden Unterstützung für die alte Israelpolitik in der deutschen Öffentlichkeit entgegen zu wirken: „Viele Beobachter verweisen seit Jahren darauf, dass die grundsätzlich proisraelische Orientierung der deutschen Politik von weiten Teilen der Bevölkerung nicht länger geteilt wird.“

Der Begriff der Staatsräson entstammt rechtshistorisch dem Fundus des Deutschen Obrigkeitsstaates und des vordemokratischen Feudalstaates. Er ist dem Rechtsverständnis des Staats des Grundgesetz nach 1949 wesensfremd, insofern er eine höhere, über Recht und Gesetz stehende Vernunft reklamiert. In diesem Sinne wird er bezogen auf Israel in der öffentlichen Debatte eingesetzt, wenn die notorische Ausblendung der Menschenrechtslage der Palästinenser mit der Verantwortung vor der deutschen Geschichte gerechtfertigt wird, als handle es sich hier um einen moralischen Kollateralschaden, der im Interesse der Sicherheit des Staates Israel in Kauf zu nehmen sei.

Dies geschieht im Widerspruch zum Grundgesetz. Im Grundgesetz manifestiert sich der Bruch mit der staatsrechtlichen Tradition bis 1945 – der ja aus Verantwortung vor der deutschen Geschichte vollzogen wurde - schon in der Kern-Norm (Art. 1) in zwei kurzen Sätzen:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Damit wird dem Versuch, die Menschenwürde den Interessen irgendeines Staates unterzuordnen, eine Absage erteilt. Der Staat hat nach dem Grundgesetz gegenüber der Würde aller Menschen, eine dienende Funktion und nicht umgekehrt.

Antisemitismusbekämpfung und Nahostpolitik ist mit den Grundwerten unserer Verfassung in Einklang zu bringen. Im Widerspruch zu ihr kann und darf es keine Verantwortung vor der deutschen Geschichte und für Israel geben, kann auch der Antisemitismus nicht bekämpft werden.

Helmut Suttor, Laubestr. 6, 60594 Frankfurt