"Der neue hessische Ministerpräsident – kriminell gut" oder "Wer hat die Folter bzw. Androhung von Gewalt im Fall ›Gäfgen‹ gedeckt?"

erstellt von Wolf Wetzel — zuletzt geändert 2010-08-31T16:10:38+01:00
Roland Koch geht - das System Koch bleibt. Volker Bouffier wird heute zum Nachfolger des zurückgetretenen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch gewählt. Alles läuft nach Plan. Volker Bouffier gehört zum engsten Kreis des Ex-Ministerpräsidenten. Er ging mit ihm durch dick und dünn - auch und gerade als Innenminister. Welche Rolle spielte dieser bei der Entscheidung, im Frankfurter Polizeipräsidium einen Verdächtigen zu foltern?

Die Androhung von und die Bereitschaft zur Folter – eine Bagatelle für die Frankfurter Staatsanwaltschaft und das entscheidende Gericht

Die Entführung des Frankfurter Bankierssohns Jakob von Metzler machten 2002 bundesweit Schlagzeilen. Im Zuge einer Fahndung nach Personen, die Jakob von Metzler entführt hatten, wurde am 30.9.2002 Magnus Gäfgen als Tatverdächtiger festgenommen und vernommen. Tags darauf ordnete der Vizepolizeipräsident Wolfgang Daschner die Androhung der Folter und gegebenenfalls deren Durchführung an. Man wollte den Tatverdächtigen »zum Sprechen bringen«. Noch am selben Tag dokumentierte W. Daschner diesen Rechtsbruch in einer Aktennotiz und informierte den zuständigen Staatsanwalt Rainer Schilling.
Erst drei Monate später wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den Frankfurter Vizepolizeipräsident eingeleitet. Der Vorwurf lautete ›Aussageerpressung‹, für Juristen gleichbedeutend mit Folter, für die Freiheitsstrafen zwischen ein und zehn Jahren verhängt werden können. Obwohl Polizisten bei weit weniger massiven Vorwürfen bis zum Ende eines Verfahrens suspendiert werden, blieb der Vizepolizeipräsident im Amt. Im Februar 2004 ließ die Staatsanwaltschaft auch diesen Vorwurf fallen und klagte den beteiligten Kriminalhauptkommissar Ortwin Ennigkeit und den Ex-Vizepolizeipräsidenten W. Daschner wegen ›Nötigung‹ bzw. ›Anstiftung zu einer Tat‹ vor dem Landgericht Frankfurt an. Das Urteil war an Milde nicht zu überbieten: »Ehrenwerte Motive, mildes Urteil. Der ehemalige Frankfurter Vize-Polizeipräsident Wolfgang Daschner ist wegen der von ihm angeordneten Folterdrohung im Entführungsfall Metzler zu einer Geldstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Strafmildernd hätten sich die ehrenwerten Motive Daschners und des mitangeklagten Polizisten ausgewirkt, so die Richterin.« (Der Spiegel vom 20.12.2004)

Ein klarer Verstoß gegen das Folterverbot

Am 31.5.2010 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg die Folterandrohung gegen Magnus Gäfgen während einer Vernehmung im Frankfurter Polizeipräsidium im Jahr 2002 als einen Verstoß gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, das Folterverbot, verurteilt: »Die Richter warfen Deutschland eine mangelnde juristische Aufarbeitung des Falls vor; die Bestrafung der Polizeibeamten sei zu milde gewesen, sie habe ›nicht den notwendigen Abschreckungseffekt‹ gehabt, ›um vergleichbaren Konventionsverletzungen vorzubeugen‹.« (FR vom 27.8.2010)

›Um Leben und Tod‹

Eigentlich ein Polizei- und Justiz-Skandal, der in der Presse nur mit ein paar Zeilen erwähnt wurde, während monate- und seitenlang um das Für und Wider der Folter in Deutschland diskutiert werden durfte – als die Befürworter von Folter mithilfe dieses Präzedenzfalles den Bruch mit der Verfassung, der europäischen Menschenrechtskonvention und dem internationalen Folterverbot durchzusetzen versuchten.

Eine ganz tolle Geschichte für einen Krimi. Das dachte sich zumindest der Polizeikommissar Ortwin Ennigkeit, der den mutmaßlichen Entführer Magnus Gäfgen ›zum Reden bringen‹ sollte. Als zuständiger Ermittler drohte er auf Weisung des damaligen Frankfurter Polizeivizepräsidenten Wolfgang Daschner Gäfgen die »Zufügung von Schmerzen« an. Sollte diese Drohungen wirkungslos bleiben, sollten sie in die Tat umgesetzt werden: »Sie brauchen jemandem nicht fürchterliche Schmerzen zufügen. Es genügt, wenn ein relativ geringer Schmerz für eine bestimmt Dauer aufrechterhalten wird.« (Daschner, FR vom 22.2.2003).
›Um Leben und Tod‹ sollte das Buch des Polizeikommissar Ortwin Ennigkeit als Titel tragen. In der Verlagsankündigung heißt es reißerisch dazu: »Zum ersten Mal erzählt der Ermittler von der schwersten Entscheidung seines Lebens: Was wiegt schwerer? Die Menschenwürde des Tatverdächtigen oder die des entführten Kindes?«
Geplant war die Herausgabe für dieses Jahr beim Münchner Heyne-Verlag. Daraus wird wohl nichts – jedenfalls nicht in der bestehenden Fassung. Die offizielle Begründung des Verlages liest sich so: Verlag und Autor hätten »wegen der wieder offenen juristischen Fragen nach dem kürzlich ergangenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beschlossen, das geplante Buchprojekt vorerst nicht zu veröffentlichen«.
Die Begründung ist außerordentlich neblig: Die beiden angeklagten Polizeibeamte, Ortwin Ennigkeit und Wolfgang Daschner können nicht für dieselbe Tat zweimal verurteilt werden… Es sei denn, in diesem ›Protokoll eines Verbrechens‹ finden sich Fakten, die einen neuen, schwerwiegenderen Straftatbestand belegen, als den der Nötigung bzw. Anstiftung zu einer Tat. Dass es dazu möglicherweise dieses Buches bedarf, ist eigentlich Skandal genug.
Es kommt aber noch dicker.

Gefährdet das Buch die Legende vom Einzeltäter Wolfgang Daschner?

Unschwer zu erkennen ist, dass Ortwin Ennigkeit sein ›Sachbuch‹ zur Rechtfertigung seiner Straftaten nutzen wollte. Und als pflichtbewusster Polizeibeamter hat er mit Sicherheit ebenfalls belegt, wie der Entscheidungsprozess bis hin zur Folterandrohung vonstatten gegangen ist, wer im Laufe dieses Tages eingeweiht wurde, wer von dieser schweren Straftat Kenntnis hatte, in Kenntnis gesetzt werden musste.
Bereits ohne dieses Buches ist die Legende von der ›einsamen Entscheidung‹ des Herrn Daschners kaum aufrechtzuerhalten: Die Tatsache, dass der Vizepolizeipräsident W. Daschner kurz vor seiner Pensionierung stand, mag so zufällig gewesen sein, wie die sich im Urlaub befindlichen Vorgesetzten: Der Frankfurter Polizeipräsident Harald Weiss-Bollandt, der damalige hessische Innenminister Bouffier und hessische Ministerpräsident Roland Koch. So gesehen hatten alle für die fragliche Zeit ein ›Alibi‹…
Adrienne Lochte, die als Polizeireporterin der FAZ den Fall Jakob von Metzler beobachtet hatte, schrieb ebenfalls ein Buch darüber: ›Sie werden dich nicht finden‹ (Droemer Verlag 2004) Ohne es zu wollen demontiert sie darin die Legende von der ›einsamen Entscheidung‹ an besagtem 1.Oktober 2002: »Der Führungsstab kam zusammen. Anderthalb Stunden lang diskutierten die Kriminalisten darüber, wie Gäfgen anzupacken sei, mit welchen Methoden man ihn zum Sprechen bringen könnte, was rechtlich machbar sei. Der Polizeipsychologe soll davon abgeraten haben, dem Verdächtigen Schmerzen zuzufügen.« (S. 176) Drei Seiten weiter fasst sie das Ergebnis dieser Beratungen und Rücksprachen zusammen: »Der Innenminister wollte in seinem Urlaub ständig informiert sein. Auch Ministerpräsident Roland Koch, der ebenfalls gerade Ferien machte, wollte wissen, wie es weiterging.« (S.179)
Bis heute ist die FAZ-Reporterin Adrienne Lochte für diese schwerwiegenden Aussagen nicht belangt worden. Warum auch.
Sollte das Buch des Polizeikommissar Ortwin Ennigkeit genau diesen Ablauf bestätigen, würde dies nicht nur die fortgesetzte Untätigkeit der Frankfurter Staatsanwaltschaft bestätigen, sondern zugleich einen Ex-Innenminister treffen, der heute auf dem Sprung ist, hessischer Ministerpräsident zu werden: Volker Bouffier.
Vieles deutet in diese Richtung, unter anderem die ›Empfehlung‹ des aktuellen Frankfurter Polizeipräsidenten Achim Thiele an den schreibenden Kollegen, sein Buch nicht zu veröffentlichen. Dass diese ›Empfehlung‹ einer knallharten Drohung gleichkommt, ist unschwer zu verheimlichen. Sein Polizeipräsidiumssprecher Jürgen Linker lässt mitteilen, dass er der Überzeugung sei – nach Vorablektüre – dass es sich dabei um Verrat von Dienstgeheimnissen handelt. »Auf die Frage, ob das vom designierten Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) geführte Innenministerium in den Prozess involviert sei, sagte Linker: ›Ob sich Thiel vom Ministerium hat beraten lassen, entzieht sich meiner Kenntnis.‹« (FR vom 27.8.2010)
Ob es sich bei der Gewaltandrohung gegenüber Magnus Gäfgen um ›Nötigung‹ bzw. ›Anstiftung zu einer Straftat‹ handelte oder um Folter, ob der designierte Ministerpräsident Volker Bouffier als Vorgesetzter darüber informiert war und diese schweren Straftaten mit gedeckt hat, lässt sich einfach klären: Man muss nur das Buchmanuskript beschlagnahmen und die entsprechenden Passagen mit den unbestrittenen Aussagen der FAZ-Reporterin Adrienne Lochte vergleichen.

Alles andere ist fortgesetzte Strafvereitelung im Amt – zugunsten eines designierten Ministerpräsidenten.

Wolf Wetzel        30.8.2010