Erneut Sammelabschiebung nach Afghanistan

erstellt von ProAsyl — zuletzt geändert 2021-02-09T11:46:59+02:00
– trotz katastrophaler Sicherheitslage, grassierender Pandemie und entgegenstehenden Gerichtsurteilen

Für heute ist wieder eine Sammelabschiebung nach Afghanistan geplant, die in München starten soll. Es ist schon die zweite in diesem Jahr und bereits die dritte, nach der auf Ersuchen der afghanischen Regierung pandemiebedingten 9-monatigen Abschiebe-Pause bis Dezember 2020. PRO ASYL ist entsetzt über die eingeleiteten Sammelabschiebungen in den letzten zwei Monaten und fordert einen sofortigen bundesweiten Abschiebestopp nach Afghanistan.

Dabei verschlimmert sich die Lage in dem Land zusehends. Das Robert-Koch-Institut benennt Afghanistan zum Hochinzidenzgebiet, das Auswärtige Amt bescheinigt ein zusammenbrechendes Gesundheitssystem, die politischen Analysen rechnen mit einer weiteren Verschärfung der Sicherheitslage in dem ohnehin gefährlichsten Land der Welt.

Rücksicht auf die coronabedingte Situation wäre gerade jetzt mehr denn je angezeigt. Denn Afghanistan wurde am 31.01.2021 vom Robert-Koch-Institut als »Hochinzidenzgebiet« – also als Gebiet mit besonders hohem Infektionsrisiko durch besonders hohe Inzidenzen für die Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 – eingestuft. In den Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amtes heißt es vor diesem Hintergrund: »Afghanistan ist von COVID-19 besonders stark betroffen. Das Gesundheitssystem hält den Belastungen nicht stand«. Bereits am 17.12.2020 warnte die UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Deborah Lyons: »Afghanistan steht vor einer neuen Welle von COVID-19. Die Auswirkungen dieser Pandemie waren bereits verheerend. Die zweite Welle im Winter wird voraussichtlich noch viel schädlicher sein als die erste Frühjahrswelle. Hunger und Unterernährung haben zugenommen und die Lebensgrundlagen sind erodiert«.

Laut dem stellvertretenden UN-Chef für humanitäre Hilfe hat sich die Zahl der Menschen in Not in Afghanistan von 9,4 Millionen Anfang 2020 auf 18,4 Millionen im Jahr 2021 verdoppelt bei einer Bevölkerung von 40,4 Millionen. Vier von zehn Menschen hungern aktuell, bis März 2021 werden sich prognostisch fast 17 Millionen Menschen in einer Krise oder einem Notstand der Ernährungsunsicherheit befinden.

Wie existenzbedrohend sich die wirtschaftliche Situation durch die Pandemie entwickelt hat, zeigt auch eine aktuelle Gerichtsentscheidung. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat, wie am 03.02.2021 in einer Pressemitteilung bekanntgegeben, in einem Urteil vom 17.12.2020 entschieden, dass derzeit selbst alleinstehende, gesunde und arbeitsfähige Männer regelmäßig nicht nach Afghanistan abgeschoben werden dürfen, da es ihnen dort in Folge der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen infolge der COVID-19-Pandemie voraussichtlich nicht gelingen wird, auf legalem Wege die elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene zu befriedigen.

Auch die Gewalt in Folge kriegerischer Auseinandersetzungen reißt nicht ab. Afghanistan war laut dem Global Peace Index im Jahr 2020 zum zweiten Mal in Folge das unsicherste Land der Welt. Für das Jahr 2021 rechnet die US-amerikanische Denkfabrik Council on Foreign Relations mit einer weiteren Verschärfung der Sicherheitslage. Dies hängt mit dem im Februar 2020 zwischen den Taliban und den USA ausgehandelten Truppenabzug bis Mai 2021 zusammen. Zwei daraus folgende Szenarien wären mit einer Zunahme an Gewalt verbunden: Sollten die USA alle Truppen in diesem Jahr abziehen, ohne eine politische Lösung zu finden, würde der Friedensprozess zusammenbrechen und das darauf folgende Gerangel um Macht würde das Land wahrscheinlich in einen noch blutigeren Bürgerkrieg führen. Würden die USA indessen die Frist im Mai verstreichen lassen, ohne sich mit den Taliban auf einen neuen Zeitplan zu einigen – oder beschließen, eine unbefristete kleine Militärmission aufrechtzuerhalten – dann würden die Taliban die US-Präsenz erneut anfechten und die Gewalt würde aller Voraussicht nach ebenfalls zunehmen.

Presseerklärung 9. Februar 2021