Familien in der Krise stellen Forderungskatalog auf

erstellt von Familien in der Krise — zuletzt geändert 2020-07-23T18:08:25+01:00
Offener Brief an die hessische Landesregierung zur aktuellen Problematik um den Regelbetrieb an Schulen und Kitas nach den Sommerferien und unseren diesbezüglichen Forderungen.

Ministerpräsident Volker Bouffier
Kultusminister Prof. Dr. Ralph Alexander Lorz
Minister für Soziales und Integration Kai Klose

Kopie:
Peter Feldmann, Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt
Sylvia Weber, Dezernentin für Bildung
Stefan Majer, Dezernent für Personal und Gesundheit
Prof. Dr. Birkenfeld, Dezernentin für Soziales, Senioren, Jugend und Recht Frankfurt,

11. Juli 2020

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Bouffier, sehr geehrter Herr Minister Lorz, sehr geehrter Herr Minister Klose,

Die Initiative Familien in der Krise, begrüßt die Öffnung von Schulen und Kindertagesstätten. Die vergangenen Monate seit Einführung der Corona Maßnahmen waren für Familien eine erhebliche Belastung, die in der Entscheidung über die Maßnahmen nicht genügend Berücksichtigung gefunden hat.

Seit Beginn der Pandemie haben Virologen neue Erkenntnisse über das Virus gewonnen, die nun zeigen, dass Kinder nicht, wie ursprünglich angenommen, die wesentlichen Treiber für Infektionen sind. Gleichzeitig haben zahlreiche Ärzte, Soziologen und Psychologen die vielfach langfristigen Schäden aufgezeigt, die die Maßnahmen sowie der gesamte Umgang mit der Pandemie bei Kindern hinterlassen können.

Deswegen fordern wir, dass im Falle eines erneuten Anstiegs der Infektionszahlen („zweite Welle“) nicht reflexhaft als erste und einzige Maßnahme Kitas, Schulen und andere Kinderbetreuungseinrichtungen sowie Einrichtungen der offenen Kinder und Jugendarbeit geschlossen werden! Wir Familien erwarten anlassbezogene, klare und nachvollziehbare Maßnahmen mit der dazugehörigen frühzeitigen Kommunikation und Information der betroffenen Einrichtungen sowie uns Familien.

Als Familieninitiative möchten wir den Übergang der schulischen und frühkindlichen Bildungseinrichtungen in den Regelbetrieb konstruktiv begleiten und möchten Ihnen hierzu unsere konkreten Forderungen vorstellen:

1.) Einrichtungen der frühkindlichen Bildung, Kindertagespflege und Hort

Eine Konkretisierung der Leitplanken für den Regelbetrieb in Kindertagesstätten ist nötig. Die aktuellen Hygieneempfehlungen (Stand 24. Juni 2020) sowie § 2 der ab 6. Juli in Kraft getretenen Verordnung möchten auf Träger- und Einrichtungsebene möglichst viele Spielräume eröffnen. Dies ist grundsätzlich begrüßenswert. Es braucht jedoch an entscheidenden Stellen fassbare Kriterien. Die unterschiedlichen Formulierungen in der Verordnung und den Empfehlungen schaffen Widersprüche, in deren Folge Träger den Betrieb stark einschränken.

Innerhalb der Initiative „Familien in der Krise“ mehren sich Berichte von Eltern, deren Kinder z.B. schon aufgrund von Schnupfen oder laufender Nase ohne weitere äußerliche Krankheitserscheinungen die Betreuung verwehrt wird. Selbst ein negativer Corona-Test wird von Einrichtungen in solchen Fällen zum Teil nicht akzeptiert. Schnupfen und laufende Nase sind auch bei gesunden Kindern insbesondere zur kalten Jahreszeit keine Seltenheit und kein Anzeichen für Krankheit. Kita-Kinder, aber insbesondere Krippenkinder durchleben über ein Jahr zahlreiche, ungefährliche Infekte. Diese Erfahrungen zeigen deutlich, dass die Verunsicherung in den Einrichtungen groß ist. Die Kriterien der Hygieneempfehlungen öffnen willkürlichen Entscheidungen die Tür. Die Familien, insbesondere Alleinerziehende und berufstätige Eltern, dürfen mit diesem Problem nicht allein gelassen werden Die Urlaubstage und Kranktage sind bei den meisten Angestellten nach dem Lockdown aufgebraucht. Für diese Personen ist die Betreuung zu Hause schlicht nicht mehr möglich.

  • Wir fordern deshalb, für Krippen, Kindergärten und Horteinrichtungen sowie andere Formen der Nachmittagsbetreuung eine einheitliche, für alle gültige Negativliste jener äußerlichen “Symptome” aufzustellen, die allein nicht reichen, um Kindern den Betreuungsanspruch zu verwehren. Zudem ist die Klarstellung wichtig, dass Erkältungsmerkmale ohne gleichzeitig erhöhte Körpertemperatur nicht zum Ausschluss führen dürfen.
  • Wir fordern stimmig ausgestaltete Lockerungen für Kinder und Jugendarbeit. Insbesondere sozialräumlichen Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit muss ihr gewohnter Leistungsumfang möglich gemacht werden. Wir beziehen in diese Forderung ausdrücklich auch gemeinwohlorientierte Angebote für Familien (Familienbildungsstätten, Kinder- und Familienzentren, Mehrgenerationenhäuser u. ä.) mit ein. Die Regularien in Einrichtungen der Schulischen Nachmittagsbetreuung und Angeboten der Offenen Kinder- und Jugendarbeit weichen zum Teil erheblich ab.Während die schulische Nachmittagsbetreuung ihre gewohnten Betreuungsformate größtenteils wieder aufnehmen konnten, sind die Vorgaben in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit noch deutlich restriktiver. Während z.B. die Einschränkung “1 Person pro 5m2” in der Gastronomie aufgehoben wurde, hat sie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit weiter Bestand. Dies schmälert die Möglichkeiten insbesondere sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen eine ausreichende Angebotsstruktur bieten zu können. Wir sind für Chancengleichheit aller Kinder!
  • Wir schließen uns auf Grund der bisher genannten Punkte der gewerkschaftlichen Forderung nach einem Kita-Gipfel an. So könnten alle handelnden Akteure, Eltern, Erzieher*innen-Vertretungen aber auch zivilgesellschaftliche sowie institutionalisierte Elternvertretungen in den Entscheidungsprozess mit einbezogen werden. Denn so vielfältig die Kita-Landschaft sein mag, das Interesse an einer qualitativ hochwertigen 2/5Betreuung und frühkindlichen Bildung und einem konsensualen Miteinander prägt alle Akteure.

2.) Grund- und weiterführende Schulen

Im Schreiben des Hessischen Kultusministeriums vom 30.06.2020 an alle Schulen in Hessen wurde das klare Ziel formuliert, im kommenden Schuljahr 2020/21 den Regelbetrieb an allen Schulen wiederaufzunehmen. Diese Zielsetzung des vollumfänglichen Präsenzunterrichts deckt sich mit unseren Zielen als Familieninitiative und wir danken dem Kultusminister für dieses Schreiben, das auch die dringend benötigten Handlungsanleitungen für alle Beteiligten zu den verschiedenen Themenbereichen enthält.

Die letzten Wochen haben uns allerdings gezeigt, dass die Handhabung der teils sehr offen formulierten Erlasse und Handreichungen des Hessischen Kultusministeriums zu extrem unterschiedlichen Interpretationen an den einzelnen Schulen geführt hat. Die Bandbreite an Erfahrungen ist vielfältig; manche Schulen gingen mit hervorragendem Beispiel voran, andere schöpften vorhandene Ressourcen leider nicht aus.

Mit Blick auf den Kinderschutz und die Kinderrechte auf Bildung und Teilhabe fordern wir einen durchdachten, transparenten Plan mit den minimal nötigsten Maßnahmen im Falle von steigenden Infektionszahlen.

In Anlehnung an Ihre Schreiben vom 30.06.2020 sollten folgende Punkte Berücksichtigung finden:

  • Wir fordern dringend, den Verzicht des Tragens einer Mund-Nase-Bedeckung im Schulhof durchzusetzen und im Freien keine Abstandsregeln und Hygieneregeln vorzugeben, um Kindern und Jugendlichen wieder die Schule als sozialen Interaktionsraum zur Verfügung zu stellen. Dies gilt insbesondere auch für die Sekundarstufe I, die seit fünf Monaten auf soziale Interaktion mit Gleichaltrigen in der Schule verzichten musste, was nicht spurlos an den Jugendlichen vorübergegangen ist, wie erste Studien belegen.
  • Sollte das Pandemiegeschehen einen Fernunterricht unbedingt wieder erforderlich machen, muss dieser hohen Qualitätsansprüchen mit festen Unterrichtszeiten unterliegen mit entsprechender Kommunikation an die Schüler*innen und Eltern.
  • Es benötigt eine digitale Infrastruktur für den Fernunterricht, sowie das Arbeiten der Lehrer*innen von zu Hause aus. Dazu gehört auch die sofortige Bereitstellung von digitalen Endgeräten für Schulen, der Anschluss an eine entsprechende Internetleitung oder WLAN der Schulen, der Fernzugriff der Lehrer*innen auf das entsprechende Netzwerk und die verfügbaren Programme der Schule, sowie die Bereitstellung von digitalen Endgeräten an Schüler*innen.
  • Schaffung von virtuellen Klassenzimmern, die eine aktive Teilnahme der Schüler*innen von zu Hause garantieren, und keinen Unterricht anhand von ausgedruckten Arbeitsblättern. Wir begrüßen Ihre Vorgaben zu Kommunikationsstrukturen für den Distanzunterricht, der transparente und regelmäßige Kontakte der Schule mit Schüler*innen sowie Rückmeldeprozesse sicherstellen soll. Allerdings sollte die Verantwortung dies zu gewährleisten, nicht nur auf Schulleitungen und Gesamtkonferenzen abgewälzt werden.
  • Wir fordern mindestens einen telefonischen Kontakt pro Woche pro Schüler mit dem/der Klassenlehrer*in. Bei Bedarf und besprechungsintensiven Inhalten ist regelmäßiger Kontakt zu gewährleisten. Die Schüler*innen benötigen persönliche Rückmeldungen ihrer Lehrer*innen, um die Motivation und den Lernerfolg zu stärken und um entsprechendes Feedback zu erhalten und zu verarbeiten.
  • In einem Fernunterrichts-Szenario müssen Lehrer*innen via E-Mail, Videochat und Telefon erreichbar bleiben.
  • Es muss eine Dienstanweisung zur Nutzung und Anmeldung aller Schulen bei der Schulplattform des Hessischen Bildungsservers oder ähnlichen Plattformen (z.B. Teams), und vor allem der Einrichtung videogestützter, virtueller Klassenzimmer geben.
  • Fortlaufende Maßnahmen für Kinder mit Förderbedarf müssen sichergestellt werden.
  • Wir brauchen möglichst viele Lehrer*innen im Präsenzbetrieb. Die Landesregierung hat den Abschluss von befristeten TV-H-Verträgen zur Sicherstellung des Personalbedarfs und zur Kompensation von pandemiebedingten Engpässen grundsätzlich ermöglicht. Zusätzlich schlagen wir vor, ad hoc Lehramtsstudent*innen, Lehrkräfte mit erstem Staatsexamen und gegebenenfalls pensionierte Lehrkräfte mit einzubeziehen.
  • Wir fordern die Einberufung einer Frankfurt-weiten Schulleiter*innenkonferenz (je Schulform), um besonders gutes Schulmanagement zu loben und anderen Schulleiter*innen praxisnahe Ideen zu geben, wie Schulen die Situation bestmöglich meistern können. Dies ist wichtig, um Visibilität darüber zu schaffen, was sehr gut funktioniert hat und wo Verbesserungsbedarf besteht. Dies ist auch sinnvoll, um Schulleiter*innen in ihrer Verantwortung zu entlasten. Wir Eltern wollen an dieser Stelle mit einbezogen werden.
  • Im kommenden Schuljahr wird die Lehrkräftefortbildung auf die Themenfelder “Medienbildung und Digitalisierung” sowie “Unterstützung von Lehrpersonal in Grundschulen” fokussiert. Darüber hinaus fordern wir eine Weisung von Ihnen als Dienstherr der Lehrerschaft in Hessen, dass diese Weiterbildungsangebote verpflichtend bis zum Jahresende von jedem Lehrer*in wahrzunehmen sind, auch in Online-Angeboten oder Webinaren außerhalb der Unterrichtszeit.
  • Ihren Schreiben entnehmen wir, dass klare Aussagen zum Sport-, Musikunterricht sowie zum Fachunterricht Darstellendes Spiel zu Schuljahresbeginn aktualisiert werden. Wir fordern regulären Sportunterricht oder entsprechende Bewegungsangebote im Freien in Schulen, um Schüler*innen einen gesunden Alltag endlich wieder zu ermöglichen.
  • Zu Beginn des neuen Schuljahres soll ein umfassendes COVID-19 Test-Konzept erstellt worden sein, dass jeder Lehrkraft die Möglichkeit bietet, sich bei Bedarf kostenfrei testen zu lassen. Wir fordern darüber hinaus flächendeckende Tests in allen Bildungseinrichtungen.
  • Wir begrüßen, dass die Ganztags- und Betreuungsangebote in der Primärstufe und der Sekundarstufe wieder aufgenommen werden. Allerdings soll die Abdeckung des Unterrichts Vorrang haben. Da der Betrieb von Schulmensen an allen Schulen wieder grundsätzlich möglich ist, fordern wir eine entsprechende Umsetzung und gute Zusammenarbeit von Schulen mit außerschulischen Partnern, um ein vollwertiges Mittagessen für alle Schüler*innen zu sichern.

Es ist dringend geboten die hessischen Sommerferien gut zu nutzen, um auf den Herbst und Winter dieser außergewöhnlichen Zeit bestmöglich vorbereitet zu sein.

Wir sind überzeugt, dass im Geist einer allseitigen Dialogbereitschaft ein guter Weg in den Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen gefunden werden kann. Für Rückfragen und ein gemeinsames Gespräch zu den Forderungen der Initiative Familien in der Krise stehen wir natürlich sehr gerne bereit und freuen uns über Ihre hoffentlich positive Rückmeldung auf unser Anliegen.

Mit freundlichen Grüßen,

Initiative Familien in der Krise Hessen