Familien konfrontieren das Hessische Innenministerium

erstellt von Initiative 19. Februar — zuletzt geändert 2021-04-13T20:17:10+02:00
Anwälte der Familien der Opfer, sowie von mehreren Verletzten des 19. Februar in Hanau konfrontieren das Hessische Innenministerium

Amtspflichtwidrige Versäumnisse und Entscheidungen von Polizeibehörden und Staatsanwaltschaft werden detailliert aufgelistet

Dienstaufsichtsbeschwerde wurde erhoben und Amtshaftung geltend gemacht

Im Auftrag der Familien der Opfer und mehreren Verletzten des rassistischen Terroranschlages vom 19. Februar 2020 in Hanau haben der ehemalige hessische Justizminister, Rechtsanwalt Rupert von Plottnitz, sowie der Staatsrechtler Prof. Dr. Dr. Günter Frankenberg am vergangenen Montag gemeinsam ein Aufforderungsschreiben an das Hessische Innenministerium gerichtet. In dem Schreiben werfen sie Polizeikräften und Polizeibehörden in Hessen vor, die Mordtaten des Täters in Hanau durch amtspflichtwidrige Versäumnisse begünstigt bzw. nicht verhindert zu haben.

Insbesondere der zahlreichen Zeugenbekundungen zufolge mit Wissen und Duldung der Polizei verschlossene Notausgang am zweiten Tatort sowie die technisch unzulängliche und unterbesetzte Notrufanlage habe den Tatopfern die Möglichkeit genommen, sich vor der Tat durch Flucht oder das rechtzeitige Herbeiholen polizeilicher Hilfe zu schützen.

Außerdem seien im Falle eines Opfers nachweislich die Vitalfunktionen nicht rechtzeitig überprüft worden, was eine unterlassene Vergewisserung durch die Polizeikräfte darstelle, die als erste am Tatort waren.

Schließlich wird dem Land Hessen in ausführlichen Darlegungen vorgehalten, für die pflichtwidrige Vorbereitung der Obduktionen der am 19.02.2020 Ermordeten durch Polizei und Staatsanwaltschaft Hanau verantwortlich zu sein und damit das Totenfürsorgerecht der Angehörigen sowie die postmortale Würde der Verstorbenen verletzt zu haben.

Vor dem Hintergrund dieser Vorwürfe erheben die Vertreter der Familien Dienstaufsichtsbeschwerde und setzen dem Hessischen Innenministerium eine Frist bis 23. April 2021, die durch die genannten Versäumnisse verursachten materiellen und immateriellen Schäden auszugleichen.

Rupert von Plottnitz und Günter Frankenberg: „Entgegen den Behauptungen des Innenministers gab es aus unserer Sicht gravierende Versäumnisse und Fehlleistungen von Behörden, für die das Land Hessen verantwortlich ist.“

Armin Kurtović für die Familien der Opfer: „Sollte das Innenministerium sich erneut weigern, auf die von unseren Rechtsanwälten dargelegten Versagenspunkte einzugehen, werden wir beim zuständigen Gericht eine Amtshaftungsklage einreichen.“

An: Landesregierung Hessen vertreten durch den Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) und den stellvertretenden Ministerpräsidenten Tarek Al-Wazir (Bündnis 90/DIE GRÜNEN), sowie die demokratischen Fraktionen im Landtag

Hessen braucht JETZT einen Rechtsterrorismus-Opferfonds! – Ein Jahr nach dem Anschlag in Hanau

Überlebende und Hinterbliebene des rassistischen Attentats in Hanau und weiterer rechtsterroristischer Gewalttaten in Hessen benötigen dringend einen solidarischen Opferfonds. Die hessische Landesregierung muss die Verantwortung für die Folgen des mörderischen Rechtsterrorismus in ihrem Bundesland übernehmen und Betroffenen ein Weiterleben in Würde und Sicherheit ermöglichen, ohne sie zu Bittsteller:innen zu machen.

Niemand kann den Angehörigen der neun Opfer ihre Liebsten zurückbringen. Kein Geld der Welt kann ihr Leid wiedergutmachen. Das Mindeste ist jedoch, dass sie materiell abgesichert werden. Nur frei von existenziellen Nöten können die Betroffenen in Ruhe trauern und ihr Leben nach dem Verlust ihrer Lieben neu aufbauen, der häufig auch soziale und finanzielle Probleme verursacht hat.

Anlässlich des Jahrestages des rassistischen Attentats vom 19. Februar 2020 fordern wir die Landesregierung Hessen auf, die Hinterbliebenen und Überlebenden angemessen zu entschädigen – mit unbürokratischen Einmalzahlungen aus einem Opferfonds für Opfer rechtsterroristischer Gewalt.

Warum ist das wichtig?

In keinem anderen Bundesland gab es in den vergangenen 24 Monaten so viele Todesopfer von Rassismus und Rechtsterrorismus zu beklagen wie in Hessen: Bei rechtsterroristischen Anschlägen wurden seit 2019 Walter Lübcke, Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu ermordet. Keine andere Landesregierung hat sich bislang so ausdauernd dagegen gesträubt, politische Verantwortung zu übernehmen wie die hessische, obwohl beispielsweise die mitregierenden Grünen immer wieder ihr Engagement gegen Rechtsextremismus betonen. Dies zeigt sich in den mangelnden politischen Konsequenzen nach dem NSU-Mord an Halit Yozgat, dem Mord an Walter Lübcke und dem rassistischen Attentat von Hanau.

Der Täter von Hanau hat eine gesellschaftlich weitverbreitete rassistische Stimmung aufgegriffen, als er neun Menschen aus rassistischen Motiven tötete. Dem müssen CDU und Bündnis 90/DIE GRÜNEN, die Hessen seit 2014 gemeinsam regieren, zusammen mit allen demokratischen Parteien im hessischen Landtag ein klares politisches Signal entgegensetzen: gegen rechten Terror und für Solidarität mit den Opfern.

Die Bundesländer Bayern, Thüringen und Berlin haben vorgemacht, wie es geht: Sie haben entsprechende Entschädigungsfonds für die Überlebenden des Oktoberfestattentats, die Hinterbliebenen und Verletzten des NSU-Terrors und für Opfer rechter Gewalt eingerichtet. Ein hessischer Opferfonds muss also nicht neu erfunden werden, sondern kann anknüpfen an gute Beispiele. Der Fonds für Opfer allgemeiner Kriminalität, den die Landesregierung Hessen Anfang des Jahres 2021 beschlossen hat, erfüllt nicht die nötigen Voraussetzungen. Er wird der Zäsur des Anschlags in Hanau und dem Leid der vielen weiteren Opfer rechter Gewalt in Hessen in keiner Weise gerecht. Die Landesregierung zeigt damit, dass sie ihre Verantwortung genauso verkennt wie die politische Dimension des rechtsterroristischen Anschlags und die Bedrohungslage durch rechte Gewalt.

Die Hinterbliebenen und Betroffenen in Hanau leisten Unglaubliches in ihrem Kampf um Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen. Diese Arbeit kostet viel Kraft.

Ein Rechtsterrorismus-Opferfonds für Überlebende und Hinterbliebene in Hessen setzt ein lange überfälliges Signal, dass die Opfer mit den Tatfolgen nicht alleine gelassen werden.

Initiative 19. Februar, Pressemitteilung Hanau, 24. März 2021