Gedenken an die Vernichtung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus

erstellt von Joachim Brenner, Förderverein Roma — zuletzt geändert 2019-08-07T10:48:03+01:00
Stellung beziehen gegen den weiterhin grassierenden Antiziganismus.

Liebe Freundinnen und Freunde, sehr geehrte Damen und Herren,
in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden nach neuen Untersuchungen der Auschwitz Gedenkstätte zwischen 4.200 und 4.400 Roma und Sinti aus dem „Zigeunerlager“ Auschwitz vergast, nachdem sie sich am 16. Mai desselben Jahres durch einen Aufstand kurzzeitig erfolgreich dagegen zur Wehr setzten. „Arbeitsfähige“ Roma und Sinti, vor allem diejenigen, die den Widerstand organisiert hatten, wurden vor der Mordaktion selektiert und in andere Lager deportiert.

Ab 1933 begann die Einweisung von Roma in KZs, ab 1934 die Zwangs-sterilisationen. Schon 1935 fanden systematisch Erfassung, Festsetzung, Isolation und Zwangsarbeit statt. Rassistische Sondergesetze wie Eheverbote und Berufsausschlüsse wurden 1936 durch die im Jahr zuvor erlassenen Nürnberger Rassegesetze umgesetzt. Erste Massendeportationen in KZs sind ab 1938 zu verzeichnen. In dem Jahr wird auch die zentrale Stelle zur Erfassung und Verfolgung von Roma und Sinti, die „rassenhygienischen Forschungsstelle“, in Berlin eingerichtet und die „endgültige Lösung der Zigeunerfrage“ von Himmler formuliert. Die erstellten 24.000 sogenannten Gutachten bilden die Grundlage der späteren Vernichtung. Ab 1939 müssen Roma und Sinti ihre Wohnungen verlassen und werden interniert. 1940 finden erste Transporte nach Polen in Lager und Ghettos statt. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion beginnen 1941 Massenerschießungen durch die SS. Allein 5000 Sinti und Roma werden 1942 aus dem Burgenland in das Ghetto Litzmannstadt deportiert und später durch Vergasungswagen im Lager Kulmhof ermordet. Reichsjustiz-minister Thierack notiert 1942 nach einem Gespräch mit Propagandaminister Goebbels, dass Juden und Zigeuner vernichtet werden sollen. Der Auschwitzerlass vom Dezember 1943 begründete die Deportation von Roma und Sinti aus ganz Europa in das Vernichtungslager.

Am 27.1.2000 wurde in der Braubachstraße aus privaten Mitteln und nur durch massive Öffentlichkeitsarbeit der Roma-Union, des Förderverein Roma, der jüdischen Gemeinde und vieler UnterstützerInnen eine Tafel am Stadtgesundheitsamt angebracht. Über zehn Jahre lang haben fast alle Parteien und Gremien und das Institut für Stadtgeschichte die Tafel verhindert. Die Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Täter, eine angeblich unsichere Beweislage über ihre Verbrechen, die namentliche Erwähnung der Verantwortlichen, die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Nachkriegszeit und die angebliche Gefahr, durch die Anbringung der Mahntafel entstünde ein Wallfahrtsort für Neonazis, waren die ebenso unglaubwürdigen wie konstruierten Gründe der Ablehnung.

Im Institut für Stadtgeschichte fand vor zwei Wochen eine Veranstaltung statt, die dem Widerstandskämpfer Wilhelm Leuschner gewidmet war. Der Historiker Ulrich stellte seine Biographie vor und hielt eine Rede. Nachfragen waren nicht zugelassen, sodass unerwähnt bleiben konnte, wie auch in der Berichter-stattung zum 20. Juli, dass Leuschner 1929 als hessischer Innenminister das Gesetz zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens verabschiedete; eine Vorlage für die spätere Nazi-Gesetzgebung. Die offene Auseinandersetzung hierzu schmälert nicht den Verdienst von Leuschner. Das willentliche Verschweigen allerdings macht die Erinnerung falsch und wird somit durch die Unterlassung zum Bestandteil der fortlaufenden Diskriminierung der Opfer.

Die Tafel erinnert an die ermordeten Roma und Sinti und benennt, dass die beiden für die Erfassung und Deportation maßgeblich verantwortlichen NS-Rasseforscher Ritter und Justin nach 1945 nicht etwa strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden, sondern, wie im Fall von Justin, noch bis in die 60er Jahre im gehobenen medizinischen Dienste der Stadt Frankfurt standen; trotz Wissen über die von ihr begangenen Verbrechen in der NS-Zeit.

Liebe Freundinnen und Freunde.
Der Mord an dem Regierungspräsidenten Lübcke, der Anschlag auf einen Eritreer und die bekannten Ermittlungslücken bei der Überführung der Täter weisen einmal mehr darauf hin, dass der Polizeiapparat und die Justizbehörden nicht mit der gebotenen Sorgfalt arbeiten, wenn es um neonazistische und rechte Motive geht. Der Verlauf der missglückten Aufklärung der NSU Morde, die Verstrickungen des 1. Reviers in rassistische Bedrohungen, die Zunahme von exzessiver Polizeigewalt, der Umgang mit den sogenannten Todeslisten und der aktuell gescheiterte Versuch des hessischen Innenministers, der Beratungsstelle response, die Opfern von Polizeigewalt hilft, einen Maulkorb zu verpassen sind Anzeichen dafür, dass autoritäre, diskriminierende und rassistische Einstellungen mindestens im gleichen Maße in der gesamten Behörde vorhanden sind wie in der Mehrheitsbevölkerung. Bemerkenswerter Weise zeigen die aktuellen Aktivitäten im Zuge der Untersuchung des Mordes an Walter Lübcke, also einem der wichtigsten Repräsentanten hessischer Landespolitik, dass ein anderer Aufwand betrieben wird, als bei den Morden der NSU.

Die beiden letzten Studien zu „Autoritarismus“ und zur „gesellschaftlichen Mitte“ präsentieren eine Ablehnung gegenüber Roma und Sinti, die zwischen 60 und 80 % liegt. Solche Haltungen setzen sich auch immer praktisch um, mittels einer diskriminierenden Politik und Rechtsprechung, mittels Realisierung einer restriktiven Ordnung und durch unmittelbare Gewalt, wie beispielsweise dem Messerangriff auf eine Romni in Berlin im Frühjahr oder die beiden Brandanschläge in Frankfurt 2016. Bezeichnend in diesem Zusammenhang sind auch die Verbreitung von antisemitischen Stickern in der Nähe des jüdischen Gemeindezentrums im Westend, die Zunahme rassistischer Überfälle bei Fußballspielen und die Akzeptanz des sozialen Umfelds gegenüber angekündigten oder vollendeten rassistischen Gewalttaten. Zurzeit plant das Justizministerium eine Erweiterung der Strafprozessordnung und möchte zukünftig genetische Untersuchungen auf Haar-, Augen- und Hautfarbe zulassen. So wird unter dem Arbeitstitel der Überführung von Straftätern Tür und Tor für eine „Rassedatei“ geöffnet. In ihr sind Herkunft und Aussehen umfänglich gespeichert. Konkret bedeutet das, dass die bereits existierende hochentwickelte Rasterfahndung um den Aspekt der Erfassung von Minderheiten vervollständigt werden kann. Nicht zuletzt Roma und Sinti haben damit bereits im Nationalsozialismus ihre Erfahrungen gemacht und wissen, dass die massenhafte genetische Speicherung zu Kriminalisierung und Diskriminierung führt. Im Zuge der Fahndung der NSU-Morde sind in diesem Zusammenhang auch Angehörige der Minderheit verdächtigt worden.

Die Situation für Roma und Sinti, vor allem für Flüchtlinge und MigrantInnen, ist unerträglich. Die juristische Unterbindung von Leistungen, zuletzt die Versagung des Kindergeldes, was rechtlich gegen den europäischen Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt, führt zur Verelendung, dem Entzug des Aufenthalts und insbesondere zur Verarmung von Kindern. Obdachlose Roma sind zunehmend Repressalien ausgesetzt. Sie werden vertrieben, ständig kontrolliert, ihre Anstrengungen zur Selbsthilfe, wie die Häuser auf den Brachen in Frankfurt am Main, systematisch zerstört und Beschwerden bezüglich Übergriffen von Polizisten nehmen zu. Einer deutschen Sintezza wurde seitens der Wohnbaugenossenschaft Hameln die Anmietung verweigert. Intern fand sich der Vermerk „leichter Zigeunereinschlag, besser nichts anbieten“. Es gibt kaum eine Gruppe, deren Kinder so häufig und ebenso übereilt wie unzulässig von Schulen und Fachbehörden für den Unterricht an Förderschulen empfohlen werden. Eine Vorgehenswiese, die die SchülerInnen ein Leben lang stigmatisiert und die rechtliche Maßgabe zur Inklusion missachtet. Gleichzeitig bewegt sich die finanzielle Ausstattung von NGOs, wie dem Förderverein Roma, für eine fachgerechte Sozialberatung auf einem Minimum und lässt die notwendige Unterstützung nicht mehr zu. Auch unsere langjährige Forderung nach einem Haus für Roma wird weiterhin ignoriert.

Das gefährliche Vorurteil gegenüber Roma und Sinti - ebenso wie der Antisemitismus, seit Jahrhunderten ein konstitutives Merkmal gesellschaftlicher Entwicklung - funktioniert nach wie vor perfekt. Der vollständige Entzug von Individualität, die Definitionsgewalt der Mehrheit und die negative Beschreibung einer gesamten Minderheit begründen strukturelle Gewalt und Diskriminierung. Die Betrachtung von Elend initiiert nicht Mitleid oder Hilfe, sondern Hass und Ausgrenzung. Nicht die Ursache und die Verhinderung stehen im Vordergrund, sondern die Schuldzuweisung an die Opfer und ihre mögliche Entfernung aus dem öffentlichen Leben. Eine qualitative Studie, die letztes Jahr in Frankfurt erhoben wurde, hatte u. a. zum Ergebnis, dass Antiziganismus auch im Sozial- und Ordnungsamt existiert. Die Studie wird bis dato zurückgehalten, weil sie zu erheblichen Dissensen in der Stadtregierung führte. Zurzeit bemühen sich verschiedene Beteiligte, darunter auch der Förderverein Roma, um eine Veröffentlichung.

Sehr geehrte Damen und Herren.
Die Abschiebung in die Balkanländer, in Perspektivlosigkeit und rassistische Gewalt, wird durch die sogenannten Anker-Zentren, die die Betroffenen in absoluter Rechtlosigkeit halten, perfektioniert. Der Mord an einem aus Deutschland abgeschobenen Roma im Kosovo, die lebensgefährlichen Bleivergiftungen in einem Ghetto aufgrund des kontaminierten Bodens, ein Pogrom in Serbien bleiben gänzlich unberücksichtigt. Die Missachtung der Menschenrechte von Roma ist alarmierend. Bulgarien plant eine restriktive Sondergesetzgebung. Der italienische Innenminister Salvini arbeitet vor dem Hintergrund eines Mordanschlags auf einen Roma an einem Roma-Zensus mit der Zielsetzung, umfassende Kontrollen und noch effektivere Abschiebungen umzusetzen. In Frankreich sind Roma pogromartiger Hetze ausgesetzt, weil die Mär des Kinderdiebstahls gezielt kolportiert wird. In der Ukraine wurde ein junger Rom von Rassisten getötet, in der Slowakei erheben Roma den Vorwurf der Zwangssterilisierung und die ungarische Regierungspartei Fidesz vergleicht Roma mit Tieren, nachdem in einer unvergleichbaren Mordserie vor zehn Jahren sechs Roma gezielt ermordet und 55 verletzt wurden. Generell dominiert in allen Ländern die Strategie, Roma zu marginalisieren und sie der Mehrheitsbevölkerung für gesellschaftliche Fehlentscheidungen als „Sündenbock“ zu präsentieren.

Liebe Freundinnen und Freunde, sehr geehrte Damen und Herren,
es gibt mehr denn je Grund, sich für die Rechte der Roma und Sinti und gegen Antisemitismus einzusetzen. Der Förderverein Roma wird in den kommenden Monaten als Mitveranstalter von zwei Fachtagen am 30.10. und am 21.11. zu den Themen Antiziganismus und EU-Migration aus Osteuropa sprechen, in Kooperation mit dem Zentralrat in Heidelberg zwei Veranstaltungen zur Buchmesse organisieren und im Rahmen der Ausstellung „Wohnungslose im Nationalsozialismus“ am 11. November die Kontinuität von Diskriminierung vor und nach 1945 darstellen. Ich bedanke mich bei Euch, dass ihr heute hier seid und bitte zum Abschluss um eine Gedenkminute für die ermordeten Roma und Sinti.

Förderverein Roma e. V. Frankfurt/Main, Joachim Brenner, Rede zum 75. Jahrestag der Liquidation des „Zigeunerlagers“ Auschwitz, 2.8.2019