Geflüchteter vom Schulgelände in Abschiebehaft gebracht

erstellt von Arbeitskreis Asyl Witzenhausen — zuletzt geändert 2020-09-19T18:27:04+01:00
Arbeitskreis fordert die sofortige Beendigung der Abschiebehaft und Freiheit für M. sowie eine lückenlose Aufklärung der Geschehnisse der letzten Tage!

Witzenhausen, den 16.09.2020, Stand 15:30 Uhr

Am Dienstag den 15.09. gegen 11:45 Uhr wurde der 19-jährige Geflüchtete M. von mehreren Zivilpolizist*innen in der Berufsschule Witzenhausen festgenommen, um ihn abzuschieben. Er wurde danach in Gewahrsam in die Polizeiwache Eschwege gebracht. Die ihm rechtlich zustehenden Anrufe bei seiner Anwältin wurde ihm bis zum Nachmittag des 16.09. von den Beamt*innen verweigert. Freund*innen, die dem 19-Jährigen persönliche Gegenstände und Kleidung bringen wollten, durften nicht zu ihm. Trotz mehrerer Anrufe der Anwältin bei der Polizei Eschwege, wurde ihrem Mandanten widerrechtlich der Telefonkontakt verwehrt.

Der Anwältin wurde mitgeteilt, dass die Abschiebung nach Dublin-Abkommen per Flugzeug nach Madrid stattfinden soll. Spanien (insbesondere Madrid) ist aktuell Corona-Risikogebiet. Die Anwältin stellte noch am Dienstag beim Verwaltungsgericht Kassel einen Eilantrag, um die geplante Abschiebung zu verhindern, da sie diese für rechtswidrig hielt. Der Eilantrag wurde am Mittwoch abgelehnt.

Am frühen Nachmittag des 15.09. hatten sich ca. 25 Freund*innen und Unterstützer*innen spontan vor der Polizeistation Eschwege versammelt, um friedlich gegen die Abschiebung des 19-Jährigen zu demonstrieren.

Als eine Person sich vor der Wache hinsetzte, wurde sie brutal festgenommen und in Handschellen abgeführt. Sie verbrachte drei Stunden in Gewahrsam allein in einer Kellerzelle. Dabei musste sie sich bis auf die Unterhose ausziehen, bekam keine ihr rechtlich zustehende Decke und kein Trinkwasser. Erst nach langem Rufen durfte sie die Toilette benutzen. Die mit ihr agierenden Beamt*innen trugen keine Nase-Mund-Bedeckungen und hielten damit Infektions- schutzmaßnahmen nicht ein. Durch den Einsatz eines Anwaltes wurde die Unterstützerin gegen 16:30 Uhr aus dem Gewahrsam entlassen.
Insgesamt verhielten sich die Polizist*innen den Demonstrant*innen gegenüber sehr aggressiv eskalierend.

M. verbrachte die Nacht auf Mittwoch in Abschiebehaft in Ingelheim am Rhein und befindet sich weiterhin in Gewahrsam.

Am Mittwoch Vormittag fand ab 9 Uhr eine Mahnwache vor der Polizeiwache Eschwege statt. Bei der ab 14:30 Uhr stattfindenden Kundgebung vor dem Amtsgericht Eschwege setzte die Polizei wiederholt unverhältnismäßige Schmerzgriffe ein, um friedliche Demonstrant*innen vom Eingang des Amtsgericht abzudrängen, andere wurden weggetragen. Ein Demonstrant wurde festgenommen.Wir als AK Asyl Witzenhausen verurteilen die Praxis der Polizei. Allein die Menschenwürde gebietet es, dass bei Abschiebungen insbesondere bei längerem Freiheitsentzug, die Rechte der Betroffenen gewahrt werden. Betroffene haben ein Recht auf Kontakt zu ihren Anwält*innen.

Der AK Asyl stellt sich gegen die menschenverachtende Praxis des deutschen Staates, Menschen ohne Vorwarnung aus Schulen und ihrem Leben zu reißen. Sie werden in oft menschenunwürdige und lebensgefährliche Umstände deportiert – auch jetzt, trotzt der Corona-Pandemie.
Es ist höchste Zeit, dass wir die Debatten um Flucht und Asyl nicht einer populistischen Rechten überlassen, während couragierte Menschen tagtäglich solidarisch für Menschlichkeit, Freiheit und ein Leben in Würde kämpfen.

Wir fordern einen radikalen Humanismus, Reisefreiheit und Bleiberecht für alle Menschen! Gegen den rassistischen Normalzustand! Gleiche Rechte für alle!

AK Asyl Witzenhausen

Eschwege, den 16.09.2020, Stand 18:30 Uhr

M. wurde am Mittwoch dem Haftrichter in Eschwege vorgeführt. Kurz vor 18 Uhr wurde er wieder

erneut in Ingelheim in Abschiebehaft verbringen und soll morgen von Frankfurt nach Madrid abgeschoben werden.

M. hatte mittlerweile Telefonkontakt zu seiner Anwältin. Unterstützer*innen durften weiterhin nicht zu ihm. Für ihn im Polizeirevier abgegebene Kleidung und sein Handy wurden ihm nicht ausgehändigt.

Während der ab 14:30 Uhr stattfindenden Kundgebung vor dem Amtsgericht Eschwege setzte die Polizei wiederholt unverhältnismäßige Schmerzgriffe ein, um friedliche Demonstrant*innen vom Eingang des Amtsgericht abzudrängen, andere wurden weggetragen. Ein Demonstrant wurde festgenommen und war bis 18 Uhr in Gewahrsam.

Witzenhausen, den 17.09.2020, Stand 18 Uhr

Ein Versuch M. Am heutigen Donnerstag abzuschieben musste abgebrochen werden. Der Grund dafür ist bisher nicht bekannt. M. befindet sich weiterhin in Abschiebehaft in Ingelheim am Rhein. Der Anwältin wurde trotz Vollmacht die Kontaktaufnahme zu ihrem Mandanten in der JVA Ingelheim nicht ermöglicht. M. wurde sein Handy nicht ausgehändigt. Dieses Vorgehen der Behörden ist rechtswidrig, da M. Anspruch auf einen Rechtsbeistand hat.

Wann der nächste Abschiebeversuch stattfindet, ist bisher nicht bekannt. Laut Beschluss des Amtsgericht Eschwege gilt die Abschiebehaft bis Freitag 24 Uhr. Wird dieser Beschluss nicht verlängert, muss M. freigelassen werden.

Die Abschiebung von M. war heute Thema im Innenausschuss des hessischen Landtags. Im Koalitionsvertrag der schwarz-grünen Landesregierung ist festgehalten, dass Abschiebungen aus Schulen zu vermeiden sind 2 . Die Landtagsfraktion der Linken griff dies bereits gestern in einer Pressemitteilung auf 3 .

Der Abschiebeversuch nach Madrid ist besonders zu verurteilen, da Spanien und insbesondere die Hauptstadt Madrid aufgrund der steigenden Infektionszahlen mit dem Covid-19-Virus als Risikogebiet gilt. Madrid ist zurzeit die am stärksten von der Pandemie betroffene Region Europas. Die Regionalregierung hat für das kommende Wochenende den Lockdown weiter Teile der Stadt angekündigt.

Witzenhausen, den 18.09.2020, Stand 12 Uhr

Ca. 25 Menschen protestierten am heutigen Freitagvormittag ab 8 Uhr am Frankfurter Flughafen gegen die menschenunwürdige Abschiebepraxis und forderten Solidarität von Passagieren auf Linienflügen.

Laut Frankfurter Rundschau erklärte das Innenministerium, der Koalitionsvertrag der schwarz- grünen Landesregierung sei durch die Ingewahrsamnahme nicht gebrochen worden, da M. „‚nicht innerhalb einer Bildungseinrichtung‘“, sondern „‚außerhalb eines Schulgebäudes‘“ aufgegriffen worden sei.“ 1

Sara Gerth, eine Freundin von M., erklärte dazu: „Er wurde in der Pause auf dem Schulgelände festgenommen, das ist Haarspalterei aus politischem Kalkül!“ Der AK Asyl fordert, zum einen den Koalitionsvertrag tatsächlich – nicht nur auf Papier – einzuhalten, und des Weiteren dahingehend zu ergänzen, dass Abschiebungen auch nicht im Kontext von Bildungseinrichtungen stattfinden dürfen: Schulwege und -gelände müssen ebenfalls sichere Orte sein!

Witzenhausen, den 18.09.2020, Stand 19 Uhr

Entgegen der Vermutung der Anwältin wurde heute kein weiterer Versuch der Abschiebung von M. unternommen. Um die Mittagszeit fand im Amtsgericht Bingen eine Anhörung statt, bei der der Antrag zur Verlängerung der Abschiebehaft verhandelt wurde. Die Anwältin des Betroffenen hatte erfolglos versucht, die Anhörung zu verschieben, weil sie aufgrund des langen Anfahrtsweges nicht persönlich zu dem erst kurzfristig festgelegten Termin erscheinen konnte. Der Betroffene hatte somit keinerlei anwaltliche Vertretung vor Ort. Der Antrag der Verteidigung wurde bereits vor der eigentlichen Anhörung abgelehnt, was einem Beobachter zufolge auf Voreingenommenheit des Richters schließen lässt. Die Sicherungshaft wurde für einen ungewöhnlich langen Zeitraum bis zum 29.10. verlängert.

Während der gesamten Anhörung war M. ununterbrochen körperlich fixiert, die Hände lagen in Handschellen und die Handschellen waren wiederum an einem Gurt am Oberkörper fixiert, was zu einer erzwungenen gebückten Körperhaltung während der gesamten Anhörung führte. M. musste eine Mund-Nasen-Bedeckung tragen und sein Kopf war mit einer Kapuze bedeckt. Dadurch konnte der Beobachter lediglich seine Augen erkennen, mit ihm zu sprechen war dem Beobachter nicht erlaubt und aufgrund des schlechten körperlichen und psychischen Zustandes des Betroffenen war auch keine Blickkontaktaufnahme möglich. Obwohl der Betroffene traumatisiert wirkte, wurde sein schlechter Zustand während der Anhörung nicht berücksichtigt.

Es ist unklar, welche körperlichen Verletzungen er von dem ersten Abschiebeversuch davongetragen hat, doch die Schilderungen während der Anhörung lassen darauf schließen, dass starke Gewalteinwirkung stattgefunden hat. Der Beobachter der Anhörung stellte fest, dass M. körperlich und psychisch stark geschwächt ist und haftunfähig wirkte. Die körperlichen Misshandlungen und die psychischen Strapazen haben stark an ihm gezehrt, zudem war er seit über 24 Stunden nicht in der Lage, Nahrung zu sich zu nehmen.

Er wurde zurück in die GfA Ingelheim gebracht, aufgrund von Quarantänemaßnahmen darf er erst ab Mitte nächster Woche Besuch erhalten. Kontaktaufnahme wird ihm noch immer verwehrt, selbst seine Anwältin konnte in den letzten Tagen nur ein einziges Mal mit ihm telefonieren. Seine ihm zustehenden Rechte werden ihm weiterhin systematisch verwehrt. Eine Abschiebung scheint jederzeit möglich.

Der AK Asyl verurteilt aufs Schärfste diese absolut menschenunwürdige Behandlung in Haft und während der Anhörung! Es ist völlig inakzeptabel, dass ein 19jähriger Schüler aus der Schule verschleppt und wie ein Krimineller behandelt wird. Die Härte der Maßnahmen ist absolut unverhältnismäßig. Die Fixierung während der gesamten Dauer der Anhörung, während der zeitgleich 5 Justizbeamt*innen anwesend waren, beschreibt der Beobachter als bewusste Demütigung. Der aktuelle sehr schlechte Zustand des Betroffenen lässt auf fahrlässige Misshandlungen schließen. Wir fordern die sofortige Beendigung der Abschiebehaft und Freiheit für M. sowie eine lückenlose Aufklärung der Geschehnisse der letzten Tage!

Twitter-Account mit aktuellen Infos: https://twitter.com/BAbschiebung

Arbeitskreis Asyl Witzenhausen, Pressemitteilung zur rechtswidrigen Abschiebung am 15.09.2020 Witzenhausen, den 18.09.2020, Stand 19 Uhr

1 https://www.fr.de/rhein-main/hessen-abschiebung-schueler-vor-der-schule-aufgegriffen-gefluechteter-witzenhausen-asyl-90046755.html

2 „Wir werden weiterhin alles unternehmen, um Abschiebungen aus Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sowie Krankenhäusern heraus zu vermeiden. Allen abzuschiebenden Personen müssen die ihnen zustehenden Rechte, wie der Kontakt zum Rechtsbeistand oder zu einer Vertrauensperson, gewährt werden.“ ( S. 126 ) https://www.hessen.de/sites/default/files/media/staatskanzlei/koalitionsvertrag_20._wahlperiode.pdf

3 https://www.linksfraktion-hessen.de/presse/mitteilungen/detail-pressemitteilungen/news/abschiebung-aus-der-schule-muss-verhindert-werden-gilt-noch-das-was-schwarzgruen-im-koalitionsvertra/