Im falschen Film: Doku-Lüge „Lovemobil“ als Fake entlarvt!

erstellt von Doña Carmen e.V. — zuletzt geändert 2021-03-23T19:10:20+01:00
Ein Lehrstück über den stigmatisierenden Umgang öffentlich-rechtlicher Medien mit dem Thema ‚Sexarbeit‘

Am 24. Oktober 2019 nahmen Juanita Henning von Doña Carmen e.V. und die Sexarbeiterin Nicole Schulze auf Einladung der Veranstalter*innen an einem Filmgespräch im Marburger Kino Cineplex teil. Anlass war die Vorführung des Films „Lovemobil“ der Regisseurin Lehrenkrauss. Die ebenfalls zu der Filmvorführung eingeladene Regisseurin erschien seinerzeit nicht. Die Begründung: Ihr sei das Honorar zu gering, dass ihr die Veranstalter*innen offerieren konnten.

Nicole Schulze, selbst Wohnmobil-Sexarbeiterin, und Juanita Henning bezeichneten den Film in der anschließenden Diskussion mit dem Publikum unter Verweis auf offenkundig gestellte Szenen, die mit der Realität der Sexarbeit nichts zu tun haben, als das wenig überzeugende Machwerk einer Prostitutionsgegnerin. Wer tagtäglich und seit Jahren mit Sexarbeiter*innen arbeite oder selbst in diesem Beruf tätig sei, wisse, dass die im Film gezeigten Szenen so nicht passiert sein können, sondern dass eine sexarbeitsfeindliche Agenda der eigentliche Skript ist, der dem Film zugrunde liegt. 

 Das führte erwartungsgemäß zu kontroversen Debatten mit dem erstaunten, vom Film zunächst einmal angetanen Publikum.

 NDR: Film als Fake entlarvt

Damals konnte niemand wissen, was heute – anderthalb Jahre später – bekannt geworden ist. Gestern hat der an der Produktion des Films finanziell beteiligte NDR öffentlich eingeräumt, dass in der angeblich so „authentische“ Dokumentation Schauspieler*innen zum Einsatz kamen, die die Rollen der Sexarbeiter*innen und eines Kunden übernahmen und inszenierten. Keine der im Film als Sexarbeiter*innen porträtierten Frauen habe jemals als Sexarbeiterin gearbeitet. Sie hätten nicht ihre persönlichen Erfahrungen geschildert, sondern eine ihnen zugewiesene Rolle gespielt und zahlreiche Situationen im Film „nachgestellt und inszeniert“.

Absolut dreist und das Publikum verachtend ist das Statement, mit dem Regisseurin Lehrenkrauss ihr Vorgehen, das sie gegenüber dem NDR und der Öffentlichkeit verschwiegen hat, nachträglich die Produktion alternativer Fakten zu rechtfertigen versucht:

"Ich kann mir auf jeden Fall nicht vorwerfen, die Realität verfälscht zu haben, weil diese Realität, die ich in dem Film geschaffen habe, ist eine viel authentischere Realität." 

Lehrenkrauss setzt damit die von ihr selbst geschaffene Vorstellung von einer „authentischeren Realität“ über eine dokumentarische Befassung mit tatsächlichen Gegebenheiten. Das ist das konstruktivistische Strickmuster, das allen quasi-religiösen Herangehensweisen an die soziale Realität gemein ist: Man schreckt vor Fälschungen nicht zurück, sondern hält sie auch noch für die höhere Wahrheit.

Damit hat Lehrenkrauss nicht nur den NDR düpiert und das Publikum verarscht. Sie dokumentiert durch ihre gesamte Herangehensweise auch die abgrundtiefe Missachtung von Sexarbeiter*innen, denen sie ihre angeblich „authentischere Realität“ überstülpt – natürlich unter dem Deckmäntelchen der Empathie.

Öffentlich-Rechtliche Medien verletzen das Gebot der Ausgewogenheit und beliefern die Abolitionisten-Szene

All diese Zutaten machten den Film vor allem für die Szene abolitionistischer Prostitutionsverächter besonders wertvoll. Denn er inszenierte und bediente die von ihnen immer wieder beschworenen Stereotype: das Elend in der Sexarbeit, die ständige Hoffnungslosigkeit, das Ausstiegsbedürfnis und die grundsätzliche Ausweglosigkeit von Frauen in der Prostitution. Schwarzers EMMA erschien Lehrenkrauss‘ Machwerk gerade deshalb als besonders „gelungen“:

 
Wer nachts auf dem Land unterwegs ist, kennt sie: heruntergekommene Wohnmobile, die irgendwo am Waldrand stehen und ein rotes Licht im Fenster haben. Die beeindruckende Doku "Lovemobil" begleitet zwei Frauen zwei Jahre lang an diesem hoffnungslosen Ort…Die Kamera liest Rita und Milena den Wunsch von den Augen ab, einfach abhauen zu wollen, es aber nicht zu können… ‚Letzen Endes wollte ich einen Film machen über eine fragwürdige Gesellschaft.‘ Das ist ihr gelungen.“

(„Im Abseits: Die Doku "Lovemobil", 8.12.2020, https://www.emma.de/artikel/freiwillig-die-doku-lovemobil-338285)

Fragwürdig ist freilich nicht die Gesellschaft, die Sexarbeit akzeptiert. Fragwürdig sind vielmehr die miesen Tricks und Lügen, mit denen Filmschaffende die Klischees der Prostitutionsgegner bedienen und von den Medien die Gelegenheit erhalten, bedenkenlos die Öffentlichkeit täuschen.

Es verwundert nicht, dass der angebliche „Dokumentarfilm“ zum Zwecke der moralischen Erbauung anschließend in vielen abolitionistischen Geselligkeitsvereinen – von Solwodi über Terre des Femmes bis zu Sisters e.V. – die Runde machte, wo man Filmabende und Zoommeetings mit und ohne Lehrenkrauss organisierte.

NDR inszeniert sich nun als Opfer einer „Irreführung“

Nun ist der „Lovemobil“-Schwindel nach anderthalb Jahren öffentlich finanzierter Volksverdummung auf Kosten von Sexarbeiter*innen aufgeflogen und der NDR hat seinen „Fall Relotius“. Der Sender muss sich obendrein von der Regisseurin vorhalten lassen, „keine Nachfragen zur Authentizität gestellt zu haben“. 

Das bestätigt der NDR auf seine Weise:

Szenen und Protagonist*innen erschienen auch auf Nachfragen immer plausibel, es gab keinen Anlass, am dokumentarischen Charakter des Films und der Glaubwürdigkeit der Autorin zu zweifeln. Eine direkte Überprüfung der Angaben durch die Redaktion, etwa durch persönliche Treffen mit den Protagonist*innen, Anrufe beziehungsweise Schriftwechsel oder Umfeld-Recherchen, hat nicht stattgefunden.“ (https://www.ndr.de/der_ndr/unternehmen/NDR-distanziert-sich-vom-Dokumentarfilm-Lovemobil,ineigenersache106.html)

Angesichts dessen ist es wenig überzeugend, wenn Frank Beckmann, Programmdirektion Fernsehen des NDR, den Sender jetzt als Opfer einer „Irreführung“ präsentiert.

Die vom NDR angekündigten weiteren Recherchen zum Hintergrund der Täuschungen im Zusammenhang der Filmproduktion „Lovemobil“ sind zwar lobenswert, aber keinesfalls ausreichend und können aber nur ein erster Schritt sein. Die vom NDR diesbezüglich angekündigte Transparenz darf sich nicht auf die Inszenierung des „Lovemobil“-Märchens beschränken.

Doña Carmen e.V. fordert umfassende Transparenz statt Ablass für die Öffentlich-Rechtlichen

Doña Carmen e.V. fordert stattdessen, den aktuellen Fall zum Anlass zu nehmen, die Hintergründe der Entstehung und Produktion anderer so genannter „Dokus“ über Sexarbeit, mit denen die öffentlich-rechtlichen Medien das Publikum in den vergangenen Jahren geradezu überschwemmt haben, einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.

Dazu zählen – um nur einige Beispiele zu nennen – „Frauenzimmer – Lust kennt kein Alter“ (Februar 2010), „Kauf mich! – Geschichten aus dem Rotlichtmilieu" (Oktober 2011), "Sex - Made in Germany" (Juni 2013), „Das Bel Ami - Eine Ehe im Rotlicht" (Juli 2014), „Bordell Deutschland“ (November 2017), „Prostitution: Kein Job wie jeder andere“ (März 2021).

Eine Überprüfung solcher Sexarbeits-Dokus muss von unabhängiger Seite, in Kooperation mit Wissenschaftler*innen sowie Vertreter*innen der Interessensverbände von Sexarbeiter*innen erfolgen.

Denn Sexarbeiter*innen sind die eigentlich Geschädigten, wenn ihr Beruf in den öffentlich-rechtlichen Medien permanent schlecht geredet wird und statt Aufklärung über ihre Tätigkeit Klischees und Vorurteilen Vorschub geleistet wird.

Doña Carmen e.V., Pressemitteilung, 23. März 2021