Interventionen von Mitarbeiter*innen der Drogenhilfe in Frankfurt

Unhaltbare Zustände

Offener Brief
an den Leiter des Gesundheitsamtes, den Gesundheitsdezernenten, die Leiterin des Drogenreferats und den Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt am Main


Sehr geehrter Herr Gottschalk, sehr geehrter Herr Majer, sehr geehrte Frau Ernst, sehr geehrter Herr Feldmann,
wir wenden uns als Angestellte der Integrativen Drogenhilfe e.V. (IDH) an Sie, weil in der jetzigen Corona-Krise die Zustände im Frankfurter Bahnhofsviertel für die Beschäftigten und die Nutzer*innen der dortigen Drogenhilfe-Einrichtungen unhaltbar sind. Wenn die Ausbreitung des Corona-Virus verzögert werden soll, müssen diese Zustände sofort abgestellt werden.

Unhaltbare Zustände

Nach wie vor halten sich vor dem Konsumraum Niddastraße regelmäßig zwischen zwanzig und fünfzig Personen auf; die von der Polizei aufgestellten Absperrgitter tragen in keiner Weise dazu bei, dass der empfohlene Abstand untereinander eingehalten wird. Die Polizei fordert über Lautsprecher auf, diese Abstände einzuhalten, allerdings ohne Erfolg. Zwar müssen die Besucher*innen vor der Tür einen Sicherheitsabstand wahren – sobald sie die Theke zur Anmeldung zum Konsum erreicht haben, reicht der Sicherheitsabstand aber nicht mehr aus. Plexiglasschutzvorrichtungen wie in Tankstellen und Supermärkten fehlen. Auch in dem Bereich des Konsumraums, wo gebrauchte Spritzen gegen saubere getauscht werden können, wird regelmäßig der Sicherheitsabstand unterschritten; auch hier fehlt eine Schutzvorrichtung aus Plexiglas.
Im Oberen Stockwerk der Einrichtung, wo der eigentliche Drogenkonsum stattfindet, fehlen an der Spritzenausgabe die Plexiglasvorrichtungen. Der Sicherheitsabstand soll hier durch eine Stuhlreihe vor der Ausgabe „sichergestellt“ werden. Gleichzeitig muss eine Kollegin oder ein Kollege die Drogenkonsument*innen beim Konsum beaufsichtigen, um bei Überdosierungen einschreiten zu können und den Besucher*innen Nachschub an Spritzutensilien zu bringen. Wenn ein*e Drogenkonsument*in aufgrund einer Überdosierung beatmet werden muss, gibt es für die Beschäftigten keine Schutzkleidung, beim Bringen neuer Utensilien kann der Sicherheitsabstand nicht eingehalten werden.
Auch unter den Kolleg*innen selbst ist es unmöglich, den empfohlenen Abstand einzuhalten. Pro Schicht arbeiten zwischen sieben und neun Kolleg*innen, zum Schichtwechsel kommen wieder sieben bis neun Kolleg*innen, jede*r in der Einrichtung Arbeitende hat somit pro Tag zwischen 13 und 17 ungeschützte Kolleg*innenkontakte. Die Anzahl ungeschützter Klient*innenkontakte liegt weit darüber, ganz zu schweigen von den Kontakten, die Klient*innen untereinander haben. Dass es den Beschäftigten auch in „normalen“ Zeiten aus hygienischen Gründen verboten ist, am Arbeitsplatz ein Butterbrot zu essen, erscheint in der aktuellen Situation widersinnig und zynisch: Butterbrot nein - Arbeiten ohne Infektionsschutz kein Problem!

Verknapptes Angebot

Wegen der Infektionsgefahr wurde das Angebot von zwölf auf sieben intravenöse Konsumplätze reduziert, jeweils ein Platz bleibt frei. Für den inhalativen Konsum stehen statt vier zwei Plätze zur Verfügung. Diese Verknappung des Angebots macht sich natürlich auf der Straße bemerkbar. Im Aufenthaltsbereich dürfen sich maximal drei Personen aufhalten; auch diese Verknappung führt dazu, dass sich Menschen, die sich nicht in ihre Wohnung zurückziehen können, auf der Straße aufhalten.
Die Beschäftigten der Frankfurter Drogenhilfe müssen aufgrund der Corona-Krise den verelendeten und gesundheitlich ohnehin schon stark angegriffenen Drogenkonsument*innen sagen, dass sie sich trotz Kälte und Hunger nicht aufwärmen dürfen und die Toilette nur benutzen dürfen, wenn sie auf der Warteliste stehen. Das führt zu Stress und Aggressionen weit über das übliche Maß hinaus.

Vertrauensverlust

Als am 13.03.2020 der erste Corona-Verdachtsfall in der Übernachtungseinrichtung „Eastside“ für obdachlose Drogenkonsument*innen bekannt wurde, hieß es von Seiten der Geschäftsführung der IDH, das Gesundheitsamt habe „keine weiteren Maßnahmen“ für notwendig erachtet (Kristian Stemmler: Krise zieht Kreise. Junge Welt, 17.03.2020, S. 4). Ab diesem Zeitpunkt war das Vertrauen in Gesundheitsamt und Arbeitgeberin bei einigen Kolleg*innen – gelinde gesagt – stark angeschlagen. Zwar wurde die zunächst positiv getestete Person ins Krankenhaus gebracht, ihre Kontaktpersonen wurden jedoch nicht prophylaktisch in Quarantäne geschickt. Dass der zweite Test ein negatives Ergebnis zeigte, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand wissen.

Menschen werden auf der Straße sterben

Eines können wir Ihnen nach vielen Jahren Arbeit in der Drogenhilfe versichern: Jede*r von uns hat im Job in menschliche und gesellschaftliche Abgründe geblickt, die man sich kaum vorstellen kann: Die Soldaten aus den Kriegsgebieten dieser Welt haben in unserer Einrichtung noch einmal im Schützengraben gelegen; Frauen haben sich nach brutalen Vergewaltigungen mit letzter Kraft zu uns geschleppt; wir haben hunderte Berichte über den alltäglichen sexuellen Missbrauch in deutschen Kinderzimmern gehört – und trotzdem oder gerade deswegen haben wir immer weiter gemacht. Aber mit anzusehen wie die, die noch nie auf der Sonnenseite des Lebens standen, sich selbst überlassen werden und deshalb – bei weiterer Tatenlosigkeit der politisch Verantwortlichen – auf der Straße sterben werden, bringt viele von uns an den Rand der psychischen Belastbarkeit – zumal wir uns durch unsere Arbeit tagtäglich einem extrem hohen Infektionsrisiko aussetzen.

Um die Ausbreitung des Corona-Virus im Bahnhofsviertel und darüber hinaus zu verlangsamen muss jetzt etwas passieren!
Handeln Sie jetzt!

Die leerstehenden Hotels müssen geöffnet und allen Obdachlosen müssen Einzel- oder Doppelzimmer zugewiesen werden. Drogenabhängige Obdachlose brauchen unbürokratisch Zugang zu Substitutionsmitteln wie Methadon, Polamidon oder Subutex. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln muss sichergestellt werden – es gibt Menschen im Bahnhofsviertel, die seit Tagen nichts gegessen haben! Da wir den intravenösen Konsum der genannten Substitute nicht verhindern werden, müssen wir die Versorgung mit sauberem Spritzbesteck gewährleisten, allerdings unter strengen Schutzmaßnahmen!
Kolleg*innen, die älter als 60 Jahre alt sind oder unter Vorerkrankungen wie Asthma, Diabetes oder Herz-Kreislaufbeschwerden leiden, müssen sofort von der Arbeit freigestellt werden, so wie es das Robert-Koch-Institut rät.

Für die Zeit, die die Umsetzung dieser Maßnahmen brauchen wird, müssen sofort Plexiglasvorrichtungen in den Drogenhilfeeinrichtungen installiert und die Einhaltung der Sicherheitsabstände gewährleistet werden. Wir appellieren eindringlich an Sie, die genannten Maßnahmen sofort umzusetzen, damit sich der Corona-Virus nicht wie ein Lauffeuer im Bahnhofsviertel und darüber hinaus verbreiten kann. Wir sind uns bewusst, dass dieser Brief arbeitsrechtliche Konsequenzen und sogar eine Kündigung nach sich ziehen kann, aber in Anbetracht der dramatischen Situation wollen wir nicht schweigen. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät!

Angela Grünzel und weitere Kolleg*innen, die nicht namentlich genannt werden wollen (Stand 29.03.2020, 24:00 Uhr).

Dieser Brief geht außerdem an:

Verdi-Fachbereichsvorstand
Frankfurter Rundschau
Frankfurter Neue Presse
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Junge Welt
Hessischer Rundfunk
Deutsche Presseagentur

Beschäftigte der Integrativen Drogenhilfe Frankfurt, 29. März 2020