Vor 90 Jahren: Die Selbstentmachtung des deutschen Reichstags

erstellt von FIR — zuletzt geändert 2023-03-24T20:59:01+01:00
Die FIR erinnert an eine entscheidende Maßnahme, die 1933 zur legalistischen Absicherung der faschistischen Herrschaft in Deutschland beigetragen hat, nämlich die Verabschiedung des „Ermächtigungsgesetzes" am 23. März 1933.

Um die Durchsetzung der totalen Macht der Hitler-Regierung ohne Widerspruch ermöglichen zu können, gab es zwei Maßnahmen. Zum einen wurden die 81 Mandate der KPD, die die kommunistische Partei bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 noch errungen hatten, annulliert, zum zweiten wurde die Eröffnung des Reichstags in einer Art inszeniert, die keinen politischen Widerspruch mehr möglich machte. Die Reichstagseröffnung fand am 21. März 1933 in der Garnisonskirche in Potsdam, am Grab der Preußenkönige statt. Per Rundfunk wurde der "Tag von Potsdam" live übertragen; Sonderausgaben der Presse fanden große Verbreitung. Das symbolträchtige Foto mit dem scheinbar ehrerbietigen Handschlag Hitlers mit Hindenburg war eine Botschaft an die konservativen Kreise, die anschließende Kranzniederlegung an den Grabstätten der Preußenkönige sollte die neue Reichsregierung symbolisch in die „glorreiche Tradition Preußens" stellen. Selbst die evangelische Kirche gab in der Person des Landesbischofs Otto Dibelius ihren Segen.

So eingestimmt, fand am 23. März 1933 die erste Beratung des neugewählten Reichstag – ohne die Abgeordneten der KPD und mit nur noch 94 von 120 Abgeordneten der SPD – in der Berliner Kroll-Oper statt.
In seiner Regierungserklärung erklärte Adolf Hitler, der einzige Sinn dieser Reichstagssitzung sei die Verabschiedung eines „Ermächtigungsgesetzes", mit dem faktisch alle Befugnisse des Parlaments – insbesondere der Kontrolle der Regierung – aufgehoben und der Reichsregierung freie Hand auf allen entscheidenden Handlungsfeldern gegeben wurde. Diese Vollmacht bezog sich nicht nur auf die Innenpolitik, sondern sollte auch für alle außenpolitischen Entscheidungen gelten. Die offizielle Begründung dieses Ermächtigungsgesetzes wurde im Titel formuliert. Es sei ein „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich".

In der Begründung für das Gesetz wurde behauptet, nur so könne sich das deutsche Volk aus der „Schmach von Versailles" lösen. Nur so sei eine internationale „Gleichberechtigung", was faktische eine militärische Aufrüstung des Deutschen Reiches bedeutete, möglich.
Aus heutiger Sicht ist es unvorstellbar: Obwohl allen im Reichstag vertretenen bürgerlichen Parteien klar war, dass dieses Gesetz ihre Tätigkeit de facto überflüssig machen würde, gab es in deren Reihen keinerlei Widerspruch.

Einzig die SPD stimmte gegen dieses Gesetz. Otto Wels, der Fraktionsvorsitzende, hielt am 23. März 1933 seine berühmte Rede mit der Botschaft: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht." Es war eine klare Ablehnung des faschistischen Verfassungsbruches – der mit dem Votum des Reichstags vollzogen werden sollte. Doch kann nicht übersehen werden, dass auch diese Rede viele Widersprüchlichkeiten enthielt. Otto Wels glaubte gegenüber der NSDAP rechtfertigen zu müssen, dass die SPD schon immer für die „Gleichberechtigung Deutschlands" eingetreten sei und man mit dem außenpolitischen Programm der neuen Regierung durchaus übereinstimme.

Er prangerte die Verfolgung der SPD und ihrer Mandatsträger an, aber ging mit keinem Wort darauf ein, dass die Mandate der KPD annulliert und die gewählten Abgeordneten – trotz offizieller Immunität – verfolgt und verhaftet wurden. Seine historische Analogie am Schluss der Ansprache: „Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen", machte deutlich, dass er selber die Bedrohungslage für alle Anhänger der Sozialdemokratie nicht wirklich einschätzen konnte.

Das „Ermächtigungsgesetz" wurde in namentlicher Abstimmung angenommen. Auch der erste Bundespräsident der BRD Theodor Heuss stimmte damals dafür. Formell war die Laufzeit dieses Gesetzes auf vier Jahre begrenzt, faktisch wurde mit diesem Gesetz die Republik abgeschafft. Während die Reichstagsbrandverordnung die Freiheitsrechte aufhob, hob dieses Gesetz das Prinzip der Gewaltenteilung auf. Von nun an waren Exekutive und Legislative in einer Hand.

Aus dieser historischen Erfahrung verteidigt die FIR das Prinzip der Gewaltenteilung und verurteilt alle Tendenzen, die selbst heute in demokratischen Staaten zu erleben sind, die Rechte von Parlamenten oder die Kontrollrechte von Verfassungsgerichten zur Durchsetzung von Regierungsentscheidungen einzuschränken.

FIR Newsletter 2023-12 dt., 24.3.2023