Wegen Wahlfunktion als „Linksextremist“ gespeichert

erstellt von VVN-BdA Hessen — zuletzt geändert 2019-06-11T10:52:39+01:00
VVN-BdA verlangt Aufklärung über angeblichen Extremismus

Vom hessischen Landesamt für Verfassungsschutz wurde einem Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) auf Anfrage mitgeteilt, dass er vom Amt „im Bereich Linksextremismus gespeichert“ sei, weil bekannt sei, dass er „Mitglied im SprecherInnenkreis der hessischen Landesvereinigung“ ist und „zudem zu einem von drei Sprechern der VVN-BdA Frankfurt am Main gewählt“ wurde.

Die hessische VVN-BdA nimmt das zum Anlass, den für den Verfassungsschutz zuständigen hessischen Innenminister Peter Beuth aufzufordern, er möge erläutern, „welche Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung“ von den Mitgliedern der VVN-BdA ausgehen würden, wenn diese eine ehrenamtliche Wahlfunktion ausüben.

In ihrem Schreiben nimmt die Landesvereinigung Bezug auf die gesetzlichen Aufgaben des Verfassungsschutzes „zur Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder“*), um dann festzustellen:
„Kein einziger dieser Verdachtsmomente kann gegenüber der VVN-BdA ernsthaft vorgebracht werden. Folglich ist die Speicherung ‚im Bereich Linksextremismus‘ gesetzwidrig. Wir fordern Sie auf, das Landesamt für Verfassungsschutz anzuweisen, die gespeicherten Daten über unsere Mitglieder zu löschen“.

„Wir weisen darauf hin, dass es zum antifaschistischen Auftrag unserer Vereinigung gehört, die freiheitlich demokratische Grundordnung, also die Grundwerte der Hessischen Verfassung und des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zu verteidigen“, betont die VVN-BdA.

Der Begriff Linksextremismus sei zudem „keine juristisch legitimierte Definition“, sondern „ein politischer Kampfbegriff“, der dazu diene, „Menschen, die sich gesellschaftskritisch engagieren, zu diskreditieren und auszugrenzen“. „Diesen Begriff auf Aktivitäten und Mitglieder unserer antifaschistischen Vereinigung anzuwenden, ist verleumderisch“, heißt es in dem Schreiben.

*) Quelle: §2 Hessisches Verfassungsschutzgesetz (HVSG)

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, Landesvereinigung Hessen


Schreiben an den Innenminister Peter Beuth

Frankfurt, den 12. Juni 2019

Überwachung durch das Hessische Landesamt für Verfassungsschutz

Schreiben vom 7. Juni 2018 des Landesamtes für Verfassungsschutz an unser Mitglied Norbert Birkwald dortiges Aktenzeichen: DSB-038-S-470 000-725/2018

Sehr geehrter Herr Minister,

wir wenden uns heute an Sie als den zuständigen Minister für das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen.

In dem im Betreff genannten Schreiben wird unserem Mitglied Norbert Birkwald mitgeteilt, er werde „im Bereich Linksextremismus gespeichert“. Sodann wird ausgeführt, es sei „bekannt“, dass er „Mitglied im SprecherInnenkreis der hessischen Landesvereinigung der ‚Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten‘ (VVN-BdA) Hessen“ sei. Weiter heißt es in dem Schreiben: „Zudem wurden Sie am 21. Januar 2018 zu einem von drei Sprechern der VVN-BdA Frankfurt am Main gewählt.“

Beide Sachverhalte treffen zu. Er, wie auch die Unterzeichnerinnen dieses Schreibens sind ehrenamtlich für unsere Vereinigung auf verschiedenen Ebenen tätig.

Mit unserer Tätigkeit fühlen wir uns dem Gründungsauftrag der VVN und dem Schwur von Buchenwald verpflichtet. In der Gründungserklärung der VVN von 1946 heißt es: „Die Ziele der Vereinigung sind:

  1. Die breitesten Bevölkerungsschichten, insbesondere die Jugend über die faschistischen Verbrechen zu unterrichten,
  2. den tapferen offenen Kampf der deutschen Widerstandsbewegung aufzuzeigen und zu würdigen,
  3. den Kampf gegen alle ideologischen Reste des Nazismus, des Militarismus und der Rassenlehre systematisch zu führen, um dadurch den Völkerfrieden zu sichern und jedem Versuch neuer faschistischer Betätigung zu unterbinden,
  4. die Zusammenarbeit aller antifaschistischen, demokratischen Kräfte zu stärken und aufzubauen,
  5. den Neuaufbau des demokratischen Deutschlands durch die Heranziehung der Kämpfer gegen den Nazismus und durch die Ausschaltung der aktiven nazistischen Elemente aus allen Zweigen des öffentlichen Lebens zu sichern,
  6. die Wiedergutmachung der schlimmsten Schäden an Gesundheit und Gut, die Sicherung der Existenz aller ehemaligen Verfolgten, die Fürsorge für die Hinterbliebenen unserer Toten und der Arbeitsunfähigen ist Pflicht des deutschen Volkes. Die Vereinigung erstrebt hierfür notwendige gesetzliche Regelung.
  7. ... die gemeinsamen langjährigen Erlebnisse in den Konzentrationslagern vertieften in uns die Erkenntnis von der Notwendigkeit der friedlichen Verständigung und der Zusammenarbeit aller Völker.“

Wenige Tage nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald im April 1945 haben die überlebenden Häftlinge geschworen: „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ Diesen Schwur der Überlebenden übernahmen auch jene, die in den verschiedenen Ländern für einen antifaschistischen Neuanfang kämpften. Er blieb Orientierungshilfe in den Jahren des Kalten Kriegs, als Konfrontation statt antifaschistische Erneuerung dominierte. Auch heutige Generationen von Antifaschisten übernehmen die Verantwortung aus diesem Schwur. Er ist keine parteipolitische Botschaft, sondern eine Richtschnur für antifaschistisches Handeln über politische, weltanschauliche und religiöse Grenzen hinweg.

Mitglieder unserer Vereinigung waren an der Erstellung der Hessischen Verfassung beteiligt. Wir setzen uns für eine friedliche Welt, für Völkerverständigung, für die Verteidigung der demokratischen Rechte, gegen Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus ein. Das sind unsere antifaschistischen Überzeugungen, für die wir eintreten und für die wir werben.

Dass das schiere Ehrenamt in der VVN-BdA dazu führt, dass Norbert Birkwald „im Bereich Linksextremismus gespeichert“ wird, empört uns und bedarf einer Erklärung Ihrerseits. Trifft es zu, dass jedes unserer Mitglieder, das eine Wahlfunktion in unserer Vereinigung bekleidet, ebenfalls „im Bereich Linksextremismus gespeichert“ wird?

Der Begriff „Linksextremismus“ ist keine juristisch legitimierte Definition. Er ist sachlich und rechtlich unscharf und ungenau, wie Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgericht festgestellt haben. Er ist ein politischer Kampfbegriff und dient dazu, Menschen, die sich gesellschaftskritisch engagieren, zu diskreditieren und auszugrenzen. Diesen Begriff auf Aktivitäten und Mitglieder unserer antifaschistischen Vereinigung anzuwenden, ist verleumderisch.

Das Hessische Verfassungsschutzgesetz beschreibt in § 2 (1) die Aufgaben des Amtes. Demnach ist es „Aufgabe des Landesamtes für Verfassungsschutz ..., den zuständigen Stellen zu ermöglichen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu treffen.“ Erläutern Sie uns bitte, welche Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder von unserem Mitglied Norbert Birkwald ausgehen oder von der hessischen Landesvereinigung der VVN-BdA ausgehen? Im § 2 (2) HVSG, wird näher ausgeführt, dass es „Aufgabe des Landesamts ist, die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen“ über Bestrebungen, die in den Ziffern 1 bis 5 aufgeführt werden, vorzunehmen.

Wir erheben Anspruch, konkret mitgeteilt zu bekommen, aufgrund welcher Handlung oder welchen Verhaltens die VVN-BdA bzw. eines unserer gewählten Mitglieder unter den Verdacht geraten sein soll,

  • Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder die eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, auszuüben oder vorzubereiten,
  • sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht auszuüben oder vorzubereiten,
  • Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, auszuüben oder vorzubereiten,
  • Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes), insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes), gerichtet sind, auszuüben oder vorzubereiten?

Oder bezichtigen Sie etwa Herrn Birkwald oder die VVN-BdA, an organisierter Kriminalität beteiligt zu sein?

Kein einziger dieser Verdachtsmomente kann gegenüber gewählten Mitgliedern der VVN-BdA oder gegen die hessische Landesvereinigung der VVN-BdA ernsthaft vorgebracht werden. Folglich ist die Speicherung „im Bereich Linksextremismus“ gesetzeswidrig.

Wir fordern Sie auf, das Landesamt für Verfassungsschutz anzuweisen, die gespeicherten Daten über unser Mitglied Norbert Birkwald und darüber hinaus über alle gewählten Mitglieder der VVN-BdA zu löschen und die Betroffenen glaubhaft über diese Löschung zu unterrichten.

Ferner fordern wir Sie auf, das Landesamt für Verfassungsschutz anzuweisen, jegliche Beobachtung unserer Organisation einzustellen, gespeicherte Daten über die hessische Landesvereinigung der VVN-BdA zu löschen und uns glaubhaft über diese Löschung zu unterrichten.

Wir weisen darauf hin, dass es zum antifaschistischen Auftrag unserer Vereinigung gehört, die freiheitlich demokratische Grundordnung, also die Grundwerte der Hessischen Verfassung und des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland einschränkungslos zu verteidigen. Dazu zählen für uns insbesondere folgende Grundwerte:

  • das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen,
  • die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht,
  • das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition,
  • die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung,
  • die Unabhängigkeit der Gerichte,
  • der Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft und
  • die im Grundgesetz und in der Verfassung des Landes Hessen konkretisierten Menschenrechte.

Erläutern Sie uns bitte, was bei der Erfüllung dieses antifaschistischen Auftrags Anlass geben kann, unter Beobachtung des Landesamtes für Verfassungsschutz zu geraten.

Wir werden die Mitglieder des Hessischen Landtages, zu dessen Aufgaben es zählt, die Tätigkeit von Behörden im Zuständigkeitsbereich der Landesregierung zu kontrollieren, über diese rechtswidrige Praxis des Landesamtes für Verfassungsschutz unterrichten. Ferner behalten wir uns vor, diese Praxis des Landesamtes für Verfassungsschutz öffentlich bekannt zu machen.

Wir erwarten Ihre Antwort und verbleiben bis dahin mit freundlichen Grüßen

Silvia Gingold
Rosemarie Steffens

Sprecherinnen der Landesvereinigung Hessen der VVN-BdA