Zivilgesellschaft fordert: Aufnahmeprogramme für Gefährdete aus Afghanistan jetzt!

erstellt von Pro Asyl — zuletzt geändert 2021-09-09T14:46:15+01:00
Heute vor zwei Wochen ist die deutsche Evakuierungsaktion aus Afghanistan beendet worden – und Tausende Menschen harren nun in Verstecken aus, fürchten um ihr Leben und das ihrer Kinder. Andere sind bereits auf der Flucht.

Deshalb fordern PRO ASYL und 55 weitere Organisationen die sofortige Fortsetzung der Aufnahme und darauf aufbauende  Landes- und Bundesaufnahmeprogramme. Unabhängig davon muss der Familiennachzug schnell und unbürokratisch ermöglicht werden. Aus Tausenden verzweifelten Hilferufen präsentiert PRO ASYL einige beispielhafte Schicksale.

Auf harte Kritik stößt bei PRO ASYL und den unterzeichnenden Organisationen die willkürliche Beendigung der Registrierung aufzunehmender Menschen am 26. August durch die Bundesregierung. „Auf keinen Fall dürfen, wie offiziell geschehen, die Listen des Auswärtigen Amtes mit besonders gefährdeten Personen geschlossen werden: Die Listen müssen weitergeführt werden, die Betroffenen brauchen eine digitale Bestätigung. Diese muss die Ausreise aus Afghanistan und die Einreise in einen Drittstaat ermöglichen und zur Einreise nach Deutschland berechtigen", fordert Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL.

Regierung muss auf Ängste hier lebender Afghaninnen und Afghanen reagieren

Die Unterzeichnenden, rund 25 Bundes- und 30 Landesorganisationen, fordern zudem Charterflüge aus Nachbarstaaten Afghanistans sowie die Erteilung von Visa-on-Arrival. Das Bundesinnenministerium ist hierfür federführend und muss vier Wochen nach dem Fall von Kabul und zwei Wochen nach Ende der Evakuierung grünes Licht für die Einreise nach Deutschland geben.

„Deutschland hat eine Verantwortung für alle von deutschen Organisationen Beschäftigten und für alle, die Bezüge zu Deutschland haben, insbesondere, wenn  Angehörige hier leben. Dies ignorieren Bund und Länder bisher", sagt Burkhardt weiter. Die Bundesregierung hat den Kreis für die Menschen aus Afghanistan, die sie ins Land lassen will, viel zu eng gefasst. Die Not und die Angst der hier lebenden Menschen um ihre Angehörigen führen bisher nicht zu angemessenem politischem Handeln.  

Viele sind bereit, Ankommende zu unterstützen

Viele Menschen, die in Todesangst in ihrer Heimat ausharren,  haben bereits Anknüpfungspunkte und Kontakte nach Deutschland: Eltern, Kinder oder andere Verwandte leben hier – und hoffen, bangen und warten verzweifelt. Eine  starke afghanische Gemeinschaft und eine aktive Zivilgesellschaft in Deutschland sind bereit, neu Ankommende zu unterstützen, ihnen zu helfen und mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Deshalb braucht Deutschland Landesaufnahmeprogramme insbesondere für Angehörige, heißt es in dem Statement "Gefährdete Afghaninnen und Afghanen weiter aufnehmen – Bundes- und Landesaufnahmeprogramme sind nötig!" Wichtig ist: Vor allem auch  erwachsene Kinder und andere gefährdete Verwandte, die nach den derzeitigen Regelungen keine Chance auf Familiennachzug haben, müssen über solche Programme nach Deutschland einreisen dürfen.

Menschen, die in Gefahr sind, aufnehmen

Derzeit hat zum Beispiel der afghanische Staatsanwalt, der um sein Leben und das seiner Kinder fürchtet, keine Chance, in Deutschland aufgenommen zu werden, obwohl sein Bruder hier lebt. Denn die bisherigen Aufnahmezusagen der Bundesregierung sind zu eng gefasst.

Auch gefährdete Personen, die nicht die aktuellen engen Kriterien der Bundesregierung erfüllen, aber in Afghanistan in Gefahr sind und keine Verwandten in Deutschland haben, müssen von Deutschland aufgenommen werden. PRO ASYL und die anderen Organisationen fordern deshalb ein Bundesaufnahmeprogramm.

Erschreckende Hilferufe aus Afghanistan

Aus den Tausenden von Mails, die PRO ASYL erreicht haben, haben wir einige wenige ausgewählt, um exemplarisch die Not der Menschen in Afghanistan und die Ängste ihrer Verwandten in Deutschland darzustellen.

Mit einem Landesaufnahmeprogramm könnten gerettet werden:

Der in Deutschland lebende Bruder ist verzweifelt, fühlt sich hilflos und kann seinen Alltag privat und beruflich kaum bewältigen: Seine ganze Familie in Afghanistan ist in Todesangst. Seine Schwester wurde als aktive Frauenrechtlerin und Ärztin schon von Extremisten angegriffen, als die westlichen Truppen noch im Land waren. Nun sind sie und weitere Familienmitglieder untergetaucht. Alle waren bis zum Vormarsch der Taliban in der Zivilgesellschaft und auf wichtigen Posten engagiert: in Schulen, Kommunalparlamenten, Jugend- und Friedensbewegungen – und auch schon früher im  Widerstand gegen die Taliban.  Ein Engagement, das die Familie nun ihr Leben kosten kann.

In Berlin wartet eine Tochter auf ihre Mutter und andere Familienmitglieder. Sie werden beschuldigt, Ungläubige und Landesverräter zu sein. Denn die Tochter arbeitete einst für die afghanische Regierung. Nun wird ihre Familie massiv bedroht: Nach Anrufen mit Todesdrohungen versteckten sie sich an einem anderen Ort – und hörten dann, dass Taliban-Kämpfer im August ihre Wohnung völlig verwüstet und nach ihnen gesucht hätten. Aus Angst vor Entdeckung sind sie erneut geflohen und harren nun in einem Versteck aus: „Wir werden ermordet, wenn sie uns finden."

Ein afghanischer Rentner kennt Deutschland schon, denn seine drei erwachsenen Kinder leben und arbeiten seit Jahrzehnten in Hessen. Er hat seine Kinder und Enkelkinder in Deutschland  besucht  – und ist doch in seine Heimat Afghanistan zurückgekehrt, weil er dort leben, für sein Land arbeiten wollte. Doch nun sind der alte Mann und seine Frau in großer Gefahr, denn er hat lange für die Armee der alten afghanischen Regierung  gearbeitet.

Enge Verwandte in Deutschland hat auch eine Juristin, die mit dafür sorgte, dass Taliban zu Haftstrafen verurteilt wurden. Schon damals bedrohten Taliban die Frau, ein enger Angehöriger wurde bereits von den Taliban ermordet. Die ganze Familie ist seit Jahren ideologisch gegen die Taliban eingestellt. Nun leben sie in einem Versteck, doch die Kämpfer wissen, wo sie mit ihren Kindern wohnte, und haben schon Nachbarn ausgefragt. Die Frau setzt große Hoffnungen auf Deutschland, das einst Truppen und Hilfsorganisationen in ihre Heimat schickte.

Mit einem Bundesaufnahmeprogramm könnten gerettet werden

Eine ganze Familie, besonders die Frauen,  sind in großer Lebensgefahr: Die eine Schwester, eine Regionalpolitikerin, hatte viele Aufgaben, die sie in der Öffentlichkeit sichtbar machten, und hat zudem in einigen Projekten eng mit der Bundeswehr zusammengearbeitet. Nun werden sie und andere Familienmitglieder, die ebenfalls öffentlichkeitswirksam in der Gesellschaft aktiv waren, verfolgt und stehen auf einer Liste der Taliban. Eine Schwester wurde bereits von den Taliban entführt, brutale  Fotos versetzen die Familie in Angst und Schrecken. Und jeden Tag kommen bewaffnete Taliban und suchen im Elternhaus nach einer weiteren Schwester. In großer Angst lebt  auch ein weiterer Verwandter, dessen Eltern und Geschwister bereits vor dem Abzug der westlichen Truppen von den  Taliban ermordet worden sind. 

Auf der Todesliste der Taliban steht auch ein Jurist, der Verbrechen gegen die innere und äußere Sicherheit untersuchte und verfolgte ­ – und so zu Verurteilungen von Taliban beitrug. Wie viele, die an eine neue Gesellschaftsstruktur glaubten und für sie kämpften, stand er schon immer im Visier der Taliban – und ist ihnen mit dem Zusammenbruch des Systems schutzlos ausgeliefert. Als er aus Sicherheitskreisen erfuhr, dass die Taliban ihn verfolgen, floh er in ein Nachbarland, das ihn aber nach Afghanistan abschob. Nun lebt er versteckt und hofft auf Hilfe aus Deutschland.

Presseerklärung 9. September 2021