Vom Umkommen und vom Umbringen

<p>Brief eines Lesers<br>zur Berichterstattung zum 9.11.2000<br>zum Diebstahl der Gedenktafel in Gelnhausen<br>zum Kommen und Bringen und Verlieren

Es mag ja sein, dass manche in der Redaktion aufstöhnen und sagen oder denken: was schon wieder ein Gedicht!?
Sei's drum, damit muss ich leben, wenn Sie den Brief lesen, hat er bereits eine wichtige Funktion erfüllt, denn es ist vor allem ein Brief an Sie!, wenn sie ihn dann auch noch abdrucken, ........

Auf jeden Fall wird der Text (in modifizierter Form) im Prosa-Zyklus "Grenzgänger" seinen Platz finden

Umgekommen und verloren, gekommen und gebracht, Selbstmord oder Mord

am 18. November 2000 meldet das Gelnhäuser Tageblatt den Diebstahl einer bronzenen Gedenktafel "für die in den Jahren 1933 bis 1945 umgekommenen Jüdischen Bewohner der Stadt Gelnhausen". Ebenso die Verschandelung zweier Parkbänke mit Hakenkreuz und Hetzparolen. Für sachdienliche Hinweise ("auf Wunsch vertraulich behandelt) setzt die Staatsanwaltschaft 2000 Mark Belohnung aus. Und die Stadt, hat die Stadt da etwa gar nichts auszusetzen?

Zum Jahrestag der Reichspogromnacht ist in Gelnhausen völlig unüblich etwas zur ERINNERUNG geschehen. Es wurde nicht überdeckt durch eine Jubelfeier zum Fall der Mauer .

Die erste judenfreie Stadt im Reich beging ihr angemessen ein Jubiläum.

Die geistigen Anstifter, die die Geister riefen damals wie heute, stehen geistig Schmiere damals wie heute, brandmarken im Vorfeld bereits die Opfer damals wie heute, lassen die von ihren Brandreden entflammten Strohköpfe Feuer legen und gehen dann stiften, spurenverwischend und steuersparend, so oder so oder beides. Wer in Zukunft stiften geht, macht den Weg frei von behindernden Opfern und ihren Ansprüchen. Weltmarktdurchdringung zwischen Dollar,Yen und Rubel ohne Skrupel, zügel- und reuelos. Die Asche der Opfer festigt so noch den deutschen Schritt und Tritt auf dem vereisten Glacis der globalen Finanzmärkte.

Warum schreibt das Gelnhäuser Tageblatt ,die jüdischen Bewohner seien umgekommen.

Umkommen kann man bei einem Autounfall, bei einem Hochwasser, einem Bahnunglück. unter einer Lawine, in einem Orkan. Wenn der Obdachlose im Winter erfriert, weil man ihn nicht ins Warme lässt, so handelt es sich hierbei im Zweifelsfalle für den Angeklagten um ein Umkommen, um eine grobfahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge, wenn nicht vorsätzlich so doch wissentlich..

Das "Umkommen" der jüdischen Bewohner Gelnhausens war jedoch keine Fahrlässigkeit, keine Naturkatastrophe.

Könnte man schreiben, Aldo Moro ist durch einen Mord umgekommen, Schleyer ist durch einen Mord umgekommen, könnte man schreiben, hunderte von Oborigines-Kindern sind in den 50ern und 60ern des zwanzigsten Jahrhunderts in Australien durch Weekend-Schießübungen englischer und deutscher Wirtschaftsasylanten "umgekommen"?

Aber es sind doch auch viele einfach verhungert, verarmt und deshalb verstorben, gestorben.

Sie wurden und werden verhungert, sie wurden und werden verarmt und es gibt dafür Verantwortliche mit Namen und Adresse. Das ist kein Naturgesetz. Es gibt Schleusserbanden, die haben von 33 bis 45 viel Leben gerettet, auch für viel Geld und oftmals auch so brutal wie heute. "Casablanca" schon vergessen: "Schau mir in die Augen, Kleines!", Ich bin kein Humphry Bogart. Mir schauen tagtäglich von staatlich bezahlten Abschieberbanden bedrohte Kinder in die Augen. Was soll ich tun? Die Abschieberbanden, die es auf dem Dienstweg, auf Befehl, für Geld, Karriere und Pension taten und tun und die Banden der Schottendichter und Grenzschutz-Infratotschläger, die die Opfer ihren Häschern und dem Verhungern ausliefern. Soll ich sie auffordern, sich selbst strafzuverfolgen,

Es macht semantisch einen feinen unterschied, ob ich niedergeschlagen bin oder wurde, ob ich verarme oder verarmt werde, ob ich ausgehungert bin oder ausgehungert werde.

Der Gelnhäuser Kfz-Meister, nennen wir ihn Breidenbach, ein durchaus gläubiger aber kein orthodoxer Jude, verlor so um die 1938 seine Autowerkstatt, seine Tankstelle und sein ganzes Anwesen. Wo hat er diese Sachen denn verloren? Bei einem Spaziergang im Stadtwald? Beim Baden in der Kinzig, sinnvollerweise oberhalb der Gummifirma Veritas, vor den Stauwehren, oder im Zug nach Frankfurt, im Gelnhäuser Bahnhof unweit seines Autohauses. Vielleicht auf seinem Wegzug nach Frankfurt, wie das die Hanauer Oberbürgermeisterin Härtel nennen würde?

Hat er sich nicht auf dem Fundbüro erkundigt?
Nein, hat er nicht.

Meister Breidenbach hat auch sein Geld verloren. Es lag auf der Bank, daran konnte er sich erinnern. Geld lässt man ja auch nicht auf irgendeiner Bank so herumliegen, kein Wunder, wenn es da verloren geht. Erst neulich habe ich meine Asktentasche auf einenr oder war es unter, es war unter einer Bank stehen lassen und , als ich zurück kam war sie weg und der Foto und das Geld auch. Selbst schuld habe icxh mir gedacht.

Und es war gar keine Bank, wo er das Geld vergessen hatte, es war die Kreissparkasse Gelnhausen. Und als er seine Autowerkstatt, seine Tankstelle, sein ganzes Anwesen nicht mehr finden konnte, weil man ihn nicht mehr dort hin ließ, suchte er sein verlorenes Geld auf der Kreissparkasse, um seine jetzt einkommenslose Familie mit dem Ersparten zu ernähren.

Doch das Ersparte war weg. Die Kreissparkasse hatte sein Geldvermögen eingesäckelt und Meister Breidenbach durfte Gelnhausen nicht mehr betreten. Er hatte dort nichts mehr zu suchen. Jetzt konnte er es wirklich vergessen.

Seine Autowerkstatt, die Tankstelle, sein Anwesen hat ein arischer Konkurrent kassiert.
Breidenbach "verlor" sein Autohaus an einen Gelnhäuser, nennen wir ihn "Krempel".

Bis heute hat der "Krempel" nicht nach Nachkommen der Breidenbachs geforscht und sie für den "Verlust" entschädigt. Auch die Kreissparkasse hat niemals einen Pfennig dafür verwendet, die Nachkommen Breidenbachs zu suchen und ihnen ihr Geld zurückzuzahlen. Kann auch sein , daß die Kreissparkasse die Rückgabe nur vergaß, weil es keine Familie Breidenbach mehr gab, oder die Nachkommen, die vor den Gaskammern Überlebenden hatten vergessen sich zu melden und dann waren die Fristen verstrichen und die Sache verjährt ?

Wo haben denn die Bürgermeister, die Landräte, die Aufsichtsräte und Geschäftsführungen der Zwangsarbeitsprofiteure im Jubeltaumel der Nachkriegssiegesvereinigungsfeiern oder wenigstens zwei Tage später alle bis dahin vorhandenen Opferlisten abgearbeitet, alle nach mühsamer Suche erreichbaren Opfer angeschrieben und sie auf den abgeschlossenen Zwei-plus-vier-Vertrag hingewiesen und dass jetzt die Fristen für die Antragstellung auf Entschädigung anlaufen. Sie sind haftbar für diese nicht erbrachte Bringschuld.

1990 schrieb die Frankfurter Rundschau in einem Artikel über die Fahrt der Lina Hirchenhein nach Auschwitz, der Steingutformer Karl Hirchenhein hätte 1939/40 seinen Arbeitsplatz verloren. Auf dem Weg zur Arbeit? Nach Feierabend? Im Wald zwischen Schlierbach und Neuenschmidten, vielleicht beim illegalen Einschlagen eines Weihnachtsbaumes? Nein, er hat seinen Arbeitsplatz verloren, er weiß nicht mehr wo, aber warum, das konnte er schon wissen, weil er immerzu an seine Lina und nicht an seinen Arbeitsplatz dachte. Karl wollte sich nicht von Lina trennen, der Vierteljüdin, und da konnte sein Chef und Fürst von Isenburg im Interesse der Geschäftsentwicklung nicht mehr so gut auf den Arbeitsplatz des kleinen Steingutformers achten. Da ging er dann halt verloren. Hirchenhein hätte ja auch selber besser aufpassen können, dann hätte er ihn nicht verloren. Dieser Schussel! Jetzt musste er einen neuen finden. Und das war nicht leicht in der harten Zeit während der letzten Kriegsjahre. Und er hat denn nun ja auch beides verloren, den Arbeitsplatz und seine Lina. Hätte ja nur eins von beidem sein müssen. Wenn er Vernunft angenommen hätte. Das hat ihm sein Chef oft genug ausrichten lassen oder auch mal selbst gesagt, denn der Fürst, der Patriarch hat sich wie ein Vater um seine Leute gekümmert. Oder war es doch nicht so, war der Chef ein anderer und der Fürst gar nicht in Schlierbach, in der Wächtersbacher Steingutfabrik?

Egal, nach so vielen Jahren kriegt man das nicht so genau auf die Reihe.

Aber dass er den Arbeitsplatz verloren hat, das stimmt, und auch, dass der Fürst ihn nicht länger halten konnte, das hat man so erzählt, er hätte ihn noch lange gehalten, bis es nicht mehr ging, Natürlich war der Fürst kein Nazi, nein, der war Christ und Geschäftsmann . Die HJ rückte doch gegen seine (längst nicht mehr geltenden) Grenzsteine mit Hammer und Brecheisen aus und sang dabei die eine oder andere Strophe des Florian Geyer: "Wir sind des Geyers schwarzer Haufen eija ohey, wir wolln mit Pfaff und Adel raufen...". Die Ehe mit einer Viertel- oder Achteljüdin war für den Fürsten kein Grund den Arbeitsplatz eines Gefolgsmannes aus den Fingern gleiten und verlieren zu lassen. Aber da gab es auch die NSBOs, die nationalsozialistischen Betriebsobmänner, wenn die Meldung erstatteten , dass der Fürst einen solchen weiterbeschäftigte, und wenn das der Reichswirtschaftsführer Kaus in seiner Residenz, dem ehemaligen Gewerkschaftshaus in Hanau erfuhr, dann gabs für die fürstlichen Domänen und Industriebetriebe auch keine Zwangsarbeiter mehr und keine Aufträge der KdF und anderer NS-Großorganisationen über die Lieferung von beispielsweise Steingutgeschirr. Der Fürst hat es sich bestimmt nicht leicht gemacht, bevor er Karl Hirchenhein seinen Arbeitsplatz verlieren ließ.

Das haben sogar die evangelischen Pfarrer bestätigt. Schließlich waren die Isenburger auch Kirchenpatrone und sind es bis heute. So oder so ähnlich muss es gewesen sein und vieles davon war auch genau so.

Karls Lina ist nicht umgekommen in Auschwitz, nein sie hat die Katastrophe überlebt und ihren Karl auch. Um sie herum sind Millionen umgekommen. Sind die in die KZs gekommen oder wurden sie in die KZs gebracht? Da gibt es einen kleinen unterschied zwischen kommen und bringen. Sind Siebenmillionen umgekommen oder sind sie umgebracht worden?

Sind die letzten Juden aus Lieblos ins Getto nach Frankfurt gekommen oder wurden sie nach Frankfurt gezwungen, zur Flucht gezwungen, waren sie verarmt oder wurden sie verarmt, haben sie ihr Hab und Gut verloren oder wurde es ihnen genommen, geraubt? Mussten sie es für einen Apfel und kein Ei verkaufen? Haben sich viele der so traktierten Juden das Leben genommen oder wurden sie in den Tod getrieben, war es Selbstmord oder Mord, wenn sich der Arzt Dr. Schwab aus dem Fenster des Gestapogebäudes in Hanau stürzte.

DIE Oberbürgermeisterin von Hanau sagte bei der Kundgebung zum Jahrestag der Reichspogromnacht im Jahr 2000, die jüdische Gemeinde sei zwischen 33 und 45 "durch Wegzug immer kleiner geworden". Weggezogen sind sie also. Die Bilder vom Hanauer Hauptbahnhof sind dann nach Auffassung der OB Bilder eines Umzugs? Eines Massenumzugs?

Eines Massenwegzugs. Es war ein langer, noch kein Trauerzug, ein Zug ins noch Ungewisse. Wegzug? Sie hatten nichts mehr zum ziehen, die kleinen Leiterwagen wurden ihnen weggenommen, die brauchten sie nicht für das versprochene neue Leben im Osten. Das war kein Zug, sie zogen nicht zur Rampe zu den Güterzügen, das war Auftrieb, das war wegschlagen, das war wegtreten, das war wegmorden, das war Treibjagd, das war wegplündern, das war wegbrennen.

Und die OberBürgermeisterin aller Weinvolksbürgerfeste, die Schunkelmeisterin aller Hanauer OberBürger erzählt im moderaten Plauderton vor einer auch dazu schweigenden Menge nach Ablass anstehender anständiger Standortoptimierer und Westenweißer: die jüdische Gemeinde sei durch Wegzug kleiner geworden. Warum hat da keiner aufgeschrieen.

Die Juden sind weggezogen
Die Juden sind umgekommen
Die Juden haben ihren Arbeitsplatz verloren
Die Juden haben Hab und Gut verloren
Sie haben Angehörige verloren
Sie haben Eltern verloren
Sie haben Geschwister verloren
Sie haben Kinder verloren
Sie haben ihre Zeit verloren
Sie haben ihre Jugend verloren

Sie haben hier nichts verloren
Sie haben hier nichts zu suchen

Sie haben hier nichts zu suchen
sagte mir der Archivar
der Firma Veritas
Auf der Suche nach der Wahrheit
bin ich bei der Veritas
an der falschen Adresse.
Wie viele verloren
dort ihr Leben
und das ihrer Leibesfrucht
Wie viele haben ihre Kinder verloren?
Verloren?
NS-Ärzte trieben sie ab
gegen den Willen der Frauen
auf Antrag der Firma Veritas
Sie wollte keine Sekunde
ZwangsArbeitszeit
für die Rüstungsproduktion
verlieren