Liebloser Umgang mit historischem Ortskern

<p>Gerade weil die Gemeinde Gründau an ihre BürgerINNen appelliert, die Ortskerne zu erhalten und zu renovieren, gerade weil die Gemeinde dafür Landesmittel vergibt, ist es um so schlimmer, dass jetzt eines der prägendsten Anwesen des Gründau-Liebloser Ortskerns dem Erdboden gleich gemacht werden soll: der historische Gasthof "Storch", der die Geschichte dieses bald - wenn es so weiter geht - nicht mehr lieblichen Ortes, was der Ortnamen eigentlich bedeutet, widerspiegelt.

Es hat bereits viel Kraft und Energie gekostet das letzte jüdische Haus in Lieblos vor dem Abriss zu retten. Der Zerstörungswahn auf der Liebloser Zeil, der Gelnhäuser Straße, geht jedoch weiter: nachdem zwei völlig deplazierte Bankgebäude das Ensemble bereits erheblich beeinträchtigen wird von der Gemeinde anscheinend nach dem Motto verfahren: Ist der Kern fast ruiniert, wird der Rest auch noch zerstört.

Das im Stil der "Inspirierten" erbaute Gebäude müsste zusammen mit dem alten Rathaus und einigen angrenzenden Gebäuden unter Ensemble-Denkmalschutz stehen. Es stellt sich die Frage, ob die obere hessische Denkmalschutzbehörde einem solchen Frevel zustimmt. Alle Menschen, Institutionen und Vereine, die sich mit der Ortsgeschichte ernsthaft befassen, müssen gegen den Abriss votieren.

Dass in verschiedenen Pressemeldungen der historische Fachwerk-Gasthof auffällig häufig als baufällig bezeichnet wird, ist Propaganda der Abrissbefürworter, die schon einmal bei der ehemaligen Patras-Bar, dem heutigen Schmuckstück der Liebloser Zeil, einen übereilten Abriss ermöglichen sollte. Wie solche Kräfte mit der Mittel-Gründauer "Fürstlichen" Domäne umgehen würden ist gut vorstellbar.

Aufgabe der Gemeindevertretug und des Gemeindevorstandes ist es jetzt, die Abrisspläne zu stornieren und zu prüfen, ob zur Rettung des engsten historischen Ortskerns Mittel des Denkmalschutzes, des Dorferneuerungsprogrammes zu mobilisieren sind. Gerade wenn es um die Errichtung eines Seniorenzentrums geht, sollte es möglich sein, auch den Bauträger und künftigen Betreiber davon zu überzeugen, dass die Einbeziehung und Erhaltung historischer Bausubstanz ein Gewinn für ein solches Vorhaben darstellt. Auch die SeniorINNen haben ein Recht auf eine liebevoll erhaltene Umgebung. Dass ein Abriss brutal die Lebenserinnerungen der älteren Liebloser Menschen verletzen würde, steht auf einem wichtigen weiteren Anklageblatt: hier wurde geheiratet, getauft, getrauert, silbern, golden gehochzeitet und jedes große Dorffest gemeinsam gefeiert.

Der Liebloser "Storch" ist ein beredtes Denkmal für Gastfreundschaft, für gelungene Integration und für gegenseitigen Nutzen, von gelebter Toleranz zwischen Alteingesessenen, Zuwanderern und Flüchtlingen in Lieblos seit weit über 300 Jahren. Dass das von französischen Glaubensflüchtlingen erbaute Gasthaus bis vor ein, zwei Jahren als Übergangswohnheim für Spätaussiedler diente, macht den "Storchen" noch symbolträchtiger.

Das Fachwerk-Gasthaus "Storch" muss zusammen mit dem Liebloser Ortskern erhalten bleiben.

Hartmut Barth-Engelbart / Gründau

Lieblos säubern

Triptychon für ein Dreckloch

(Lieblos heißt eigentlich lieblicher Ort)

Wer das vorletzte
und älteste
noch erhaltene Haus
jüdischer Bürger
als Dreckloch
Rattennest
und Schandfleck
brandmarkt
geht
zumindest lieblos
unwissentlich
gewissenlos
mit der Ortsgeschichte
um

Wo
Saubermänner
Brandreden
halten
fangen
Strohköpfe
Feuer

Der ahnungslos
warmsanierte
Investor
stünde dann
mit dem Ausdruck
des Bedauerns
vor der Asche

Dem City-Center
stünde dann
kein Denkmal
mehr im Wege.


Ein Dreckloch?

Ja,
doch nur
weil Ihr
aus diesem Judenhaus
ein Saufloch und Bordell
gemacht
und dort
mit vollem Wanst
und hohlen Köpfen
gewissenlos
und lieblos
zahllose Nächte
durchgezockt
gesoffen
und gebummst
und dabei
noch liebloser
Politik gemacht
habt

Und keiner
will jetzt dran
erinnert werden
mit wem Ihr
dort so oft schon
unter einer Decke stecktet
während andere
für Euch
die Zeche
zahlen durften.

Ein Schandfleck?

Ja
und er
wird bleiben
und
daran erinnern
dass Ihr und Eure Eltern
geschwiegen
weggesehen
zugesehen habt
oder
(schon damals)
Beifall klatschtet
wenn eure Nachbarn
beraubt und geschlagen
ins Judenghetto
fliehen mussten

Wenn braune Terroristen
mit Anspruch auf Pension
die beiden Alten
aus dem Stedl holten
um sie
in Ausschwitz
zu ermorden

Ein liebloser
schwarzbrauner Fleck
getrocknetes Blut
im goldenen Buch
der Ortsgeschichte
auf einem ansonsten
aus schlechtem Gewissen
völlig unbeschriebenen Blatt

Der Schandfleck bleibt.
Kein Tintenkiller
und kein Schreibtischtöter
kein deutscher Schädlingsbekämpfer
und kein Abrissbagger
wird ihn verschwinden lassen.


(geschrieben um 1989/90)

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Stadtentwicklung