Sind wir denn alle Kapitalisten?

Ein Bericht über einen Lesenachmittag der sozialistischen Studienvereinigung zur Theorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu.

Sind wir denn alle Kapitalisten? Mit dieser halbernsten Frage eines Teilnehmers endete der erste Lesenachmittag der Sozialistischen Studienvereinigung am 21.10. zur Theorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieus. Und Bourdieu würde sie wahrscheinlich insoweit bejahen, als jeder ein Kapitaleigner ist, der über akkumulierte Arbeit, in Form von Materie oder in verinnerlichter „inkorporierter“ Form exklusiv verfügt. Und da er den Kapitalbegriff nicht nur auf die aus der Wirtschaftstheorie bekannten Erscheinungsformen beschränkt, sondern sie auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Austausches, insbesondere auf die Produktion und Übertragung kultureller Güter ausgeweitet hat, würde demnach auch der Teilnehmer einer sozialistischen Studienvereinigung tendenziell zum kulturellen Kapitalisten.

Wie Kapital übertragen wird

„Der Begriff des kulturellen Kapitals hat sich mir bei der Forschungsarbeit als theoretische Hypothese angeboten, die es gestattete, die Ungleichheit der schulischen Leistungen von Kindern aus verschiedenen sozialen Klassen zu begreifen.“ Es gelang Bourdieu, mit seiner Betrachtungsweise sowohl mit landläufigen Prämissen von schulischem Erfolg und Misserfolg als Wirkung natürlicher „Fähigkeiten“ als auch mit denen der „Humankapitaltheoretiker“ zu brechen. Letztere lassen „die am besten verborgene und sozial wirksamste Erziehungsinvestition unberücksichtigt, nämlich die Transmission kulturellen Kapitals in der Familie.“ Fähigkeit oder Begabung sind auch das Produkt einer Investition von Zeit und kulturellem Kapital.

„Bildungsarbeit“ setzt einen Verinnerlichungsprozess voraus, der Unterrichts- und Lernzeit kostet. Diese Zeit muss vom Investor persönlich investiert werden. Man „bezahlt mit seiner Person“. Man investiert nicht nur Zeit, sondern auch „eine Form von sozialkonstituierter Libido, die libido sciendi (Lernbegierde), die alle möglichen Entbehrungen, Versagungen und Opfer mit sich bringen kann.“ Hier fanden wir eine Parallele zum Libido-Konzept der Psychoanalyse. Ist etwa die Unterdrückung sexueller Neugier Voraussetzung für Lust am Lernen?

Schwer zu widerlegen ist jedenfalls die Bedeutung der Familie als Übertragungsinstanz des Kulturkapitals, sowohl für Unterschiede in der von ökonomischen Zwängen befreiten Zeit, für Unterschiede beim Beginn der Übertragung und zur Produktion der Unterschiede in den Fähigkeiten, einem langandauernden Aneignungsprozess gerecht zu werden. Je mehr die direkten und sichtbaren Formen der Übertragung (Eigenheim, Aktienkapital!) missbil- ligt werden, desto mehr gewinnt diese „am besten verschleierte Form erblicher Übertragung von Kapital“ an Bedeutung.

Wer erzieht die Erzieher?

Ein Kritikpunkt war, dass B. die Lernprozesse bei der kooperativen Arbeit unterschätzt, für deren Erfolg gerade die nicht-distinktiven Qualitäten Voraussetzung sind. Wie für die meisten Soziologen endete auch seine Forschungsarbeit in der Regel vor dem Betriebseingang. Dabei könnte gerade in einer Zeit der „Unternehmenskultur“ und „Expertokratie“ die Anwendung der Bourdieuschen Kategorien im innerbetrieblichen und gewerkschaftlichen Meinungskampf ziemlich fruchtbar sein. Kulturkapital dürfte weiter verbreitet, nur unterschiedlich bewertet sein.

Sympathisch an Bourdieus Konzeption ist gerade die Anwendung des Interessensbegriffs auf die Sphäre des intellektuellen Feldes, was seiner Rezeption im Lande der Dichter und Denker sicher ein Hindernis war. „Kultur (und Bildung) ist unser spezifisches Kapital, und noch in den radikalsten Infragestellungen neigen wir dazu, das wirkliche Fundament unserer eigentümlichen Macht, der von uns ausgeübten besonderen Herrschaftsform zu vergessen. Deshalb schien es mir unerlässlich, daran zu erinnern, dass die Denker des Universellen Interesse am Universellen haben (was weder abschätzig noch denunziatorisch gemeint ist).“

Organisation und Herrschaft

Noch härter trifft (auch und gerade linke Organisationen) B.’s Kritik, wenn es um das „soziale Kapital“ geht - „Ressourcen, die auf Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“, Beziehungsnetze. Dessen Wirkungen sind besonders dort gut sichtbar, wo verschiedene Individuen aus etwas gleichwertigem ökonomischen und kulturellen Kapital sehr ungleiche Erträge erzielen, indem sie das Kapital einer mehr oder weniger institutionalisierten Gruppen, ob Familie, Klasse, vornehmer Club, Schule oder auch Partei und Gewerkschaft stellvertretend für sich mobilisieren. Die Zeit des „Personenkults“ ist noch nirgends vorbei. „Das Delegationsprinzip hat die paradoxe Eigenschaft, dass der jeweilige Mandats- träger die im Namen einer Gruppe angesammelte Macht auch über und bis zu einem gewissen Grade gegen, diese Gruppe ausüben kann.“

Lassen sich überhaupt Organisationen auf solidarischer Basis konstituieren? Wie kann Versektung oder Bürokratisierung verhindert werden? Auch hier wurde an die Psychoanalyse erinnert: Kann die Gruppe zur „Ich-Stärkung“ der Mitglieder beitragen? Ist eine „Wir-Stärkung“ emanzipatorischer Kollektive möglich (Konzept der Situationisten). Ist die selbsttätige Aneignung von Wissen anstelle weltanschaulicher Schulungsbetriebe möglich?

Alles in allem fanden wir die Lektüre spannend genug, um sie am Samstag, den 2.Dezember mit dem Studium des „Habitus-Konzepts“ fortsetzen zu wollen. Wenn nichts anderes bekannt gegeben wird, treffen wir uns wieder um 14 Uhr in den Räumen der DFG-VK, Vogelsbergstr. 6.

gst

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