Wenn die Freiheit des Profits bedroht ist, wird scharf geschossen

Erklärung zu den Ereignissen in Genua

Im Zuge der Auseinandersetzungen beim G8-Gipfel wurde am 20.7. ein Demonstrant von der Polizei erschossen und eine weitere Demonstrantin lebensgefährlich verletzt. Nach den Schüssen von Göteborg hat damit ein weiteres Mal ein europäischer Staat unter Beweis gestellt, dass seine Polizeikräfte bereit sind, auch das Leben von DemonstrantInnen zu opfern, um sich gegen die Kritik an der Ausplünderung der Erde durch die imperialistischen Staaten und Konzerne zur Wehr zu setzen. War es auch ein einzelner Polizist, der in einer Bedrohungssituation geschossen hat, so hat jedoch die Militarisierung der Polizeimaßnahmen diesen Mord erst ermöglicht. Der terroristische Überfall der Polizeikräfte auf das Pressezentrum des Genova Social Forum verweist darüber hinaus auf eine koordinierte Aktion, die deutlich machen soll: wer die Macht des Kapitals in Frage stellt, kann seines Lebens nicht mehr sicher sein.

Die Äusserungen der führenden PolitikerInnen und der bürgerlichen Medien nach der Ermordung des Demonstranten laufen wieder einmal auf eine Taktik der Spaltung zwischen "friedlichen" DemonstrantInnen und "gewaltbereiten Chaoten" hinaus. Es gibt Anzeichen dafür, dass diese Taktik teilweise aufgeht. Festgestellt werden muß jedoch demgegenüber, dass die ursächliche Gewalt die der herrschenden Klassen der imperialistischen Länder und ihrer Staatsapparate ist. Sie sind es doch, die das Gewaltmonopol für sich beanspruchen, sie haben die Definitionsmacht, was "Gewalt" sein soll und was nicht, sie üben sie aus. Vor dem Hintergrund dieser Tatsache eine Unterscheidung zwischen "friedlichen" und "gewalttätigen" DemonstantInnen machen zu wollen, heißt nichts anderes als auf die Propaganda der Herrschenden hereinzufallen und sich argumantativ wie in praktischer Hinsicht wehrlos zu machen gegenüber einem hochgerüsteten staatlichen Repressionsapparat. Es kann auch durchaus gefragt werden: wie anders als mit Krawallen und Aufständen hat denn das Bürgertum seine rechtsstaatlichen Normen durchgesetzt? Der entscheidende Akt der Durchsetzung der bürgerlichen Demokratie liegt nicht in der Konstituierung der französischen Nationalversammlung, sondern in der Stürmung der Bastille.

Dass die Staatsmacht scharf schießt, wenn die Herrschenden attackiert werden, ist allerdings nichts Neues und war der bürgerlichen Demokratie nie wesensfremd. Nichts spricht dafür, dass sich der prinzipielle Charakter der Staatsgewalt verändern würde, auch nicht in Form eines "internationalen Polizeistaats" oder einer potentiell faschistischen "Diktatur des Weltkapitals. Wer aus den Ereignissen auf einen faschistischen "Bullenstaat" schließt, dem mit demokratischen oder anarchistischen Idealen von "Rechtmäßigkeit" und "Gerechtigkeit" zu begegnen wäre, wie es verschiedene "GlobalisierungsgegnerInnen" artikulieren, gibt sich sozialen Illusionen hin: Die Demokratur des Kapitals im Weltmaßstab ist schlimm genug. Die aktuelle Verschärfung polizeistaatlicher Methoden ist allerdings ein Anzeichen dafür, das die "zivilgesellschaftlich"-menschenfreundliche Maske der bürgerlichen Gesellschaft einmal wieder fällt und darunter der Klassencharakter des Staates in all seiner Brutalität zutage tritt. Darüber hinaus deutet allerdings auch einiges darauf hin, dass in der gegenwärtigen Phase, wie schon des öfteren in der Geschichte des bürgerlichen Staates, die politischen "Eliten" der bürgerlichen Gesellschaft ihre eigenen oft propagierten Grundsätze und Postulate über den Haufen werfen:

die weithin bejubelte Auslieferung Milose-vics an das Den Haager Kriegsverbrechertribunal unter Bruch sämtlicher rechtsstaatlicher Normen (wobei es übrigens völlig gleichgültig ist, wer die ausgelieferte Person ist);
der Entzug der Reisefreiheit für potentielle TeilnehmerInnen an den Protesten in Genua (was auf ein faktisches Demonstrationsverbot plus Einschränkung der Freizügigkeit hinausläuft, also der Beschränkung zweier grundlegender bürgerlicher Freiheiten, die das Bür-gertum seit dem 18. Jahrhundert für sich durchgesetzt hat),
die zeitweilige Aufhebung der Bestimmungen des Schengener Abkommens über die Reisefreiheit innerhalb der EU (die eben nicht die Freiheit politisch agie-render BürgerInnen ist, sondern lediglich die Freiheit des Warenverkehrs),
der Überfall der Polizeikräfte auf schlafende DemonstrantInnen, bei dem Menschen teilweise schwer verletzt wurden und andere verschleppt wur-den und schlicht "verschwanden" (als handelte es sich bei dem Terrain, auf dem sie agieren, nicht um Italien 2001 sondern um das faschistische Chile 1973),

schon das sind deutliche Hinweise darauf, dass die Herr-schenden sich auf die nächste Krise und auf die Niederschlagung künftig zu erwartender Proteste vorbereiten. Sie werden im Interesse der Verteidigung der ökonomischen Struktur und des Krisenbewältigungsprojekts der Kapital- und Staatengruppen notfalls auch ihre eigenen formal-demokratischen Verfahrensweisen und bürgerli-chen Rechtsnormen selbst auf den Müll werfen, wenn es darauf ankommt. Bürgerkriegsszenarien mit entspre-chenden Aufstandsbekämpfungsstrategien einschließlich der Suspendierung demokratischer Grundrechte werden offensichtlich zur Zeit für den "Ernstfall" erprobt. Dies versetzt uns in die - ebenfalls nicht neue - Situation, bür-gerlich-demokratische Standards und Rechte gegen das Bürgertum verteidigen zu müssen, ohne uns freilich der Illusion hinzugeben, auf dieser Grundlage eine ausreichende Kritik an den herrschenden Verhältnissen entwik-keln zu können.
Auch nach den Schüssen von Genua und auch wenn wir uns selbstverständlich mit den DemonstrantInnen solidarisieren, halten wir deshalb daran fest, dass innerhalb der antikapitalistischen Linken der soziale Inhalt und die politischen Positionen, die im Rahmen der Bewegung gegen die kapitalistische "Glo-balisierung" eine Rolle spielen, kritisch hinterfragt werden müssen. Entscheidend scheinen uns zunächst zwei Punkte zu sein:

1. Die Proteste gegen G8-Treffen, WTO-Konferenzen und IWF-Tagungen finden statt in einer Phase, in der gleichzeitig die Linke zumindest in Europa geschwächt ist. Vor allem in der BRD ist, abgese-hen von isolierten Teilbereichsauseinandersetzungen, kaum ein Hauch von sozialen Kämpfen zu spüren, und die Niederlagen der Linken sind ebensowenig verdaut wie die kapitalistische Modernisierungsspirale, die weite Teile der ArbeiterInnenbewegung überrollt hat. Anders als etwa in Frankreich basiert die Beteiligung an einer internationalen Bewegung gegen die gemeinsamen Institutionen der imperialistischen Blöcke daher nicht auf einer sich entwickelnden Dynamik von Klassenkämpfen, sondern scheint auf den ersten Blick gleichsam bo-denlos. Solange die Teilnahme an internationalen Protestbewegungen nicht verbunden ist mit der Entwicklung konkreter Gegenmacht gegen die Herrschaft des Kapitals, die verankert ist in einer langfristig angelegten Praxis in Betrieben und Stadtteilen sowie im heutigen Alltagsleben und der gesellschaftlichen Raum-Zeit dieser kon-kreten Welt, solange ist sie "nicht von dieser Welt", solange bleibt sie Bewegung für abstrakte Utopien und Ideale und kann kein Durchgangspunkt für erfolgreiche revolutionäre Bewußtwerdungs- und Vergesellschaf-tungsprozesse sein. Die spektakulären Kämpfe woanders wirklich unterstützen zu können, setzt voraus, die Kärnerarbeit zuhause zu machen.

2. Vorherrschend ist in der "Anti-Globalisierungs-Bewegung" nach wie vor eine verkürzte Kapitalismuskritik, die kaum über die Skandalisierung der Machenschaften der "transnationalen Konzerne" hinauskommt und sich zum größeren Teil auf der Ebene der Kritik der "Macht des Geldes" bewegt. So wird jedoch gar nichts erklärt, sondern allenfalls dämonisiert. Der kapitalistischen Realität wie sie ist, wird das moralisierende Ideal einer Welt wie sie sein sollte entgegengehalten, sonst nichts. ("Die Welt ist keine Wa-re") Auf der Grundlage dieser Sichtweisen ist darüber hinaus eine potentielle Bündnisfähigkeit mit nationalisti-schen, naturalistisch-biologistischen, romantisch-regressiven und sogar strukturell antisemitischen Positionen gegeben. Dagegen ist herauszuarbeiten: Es ist nicht das "internationale Finanzkapital", "der Zins" und "die Ban-kenmacht"; die eine sinnvolle Kapitalismuskritik anzugreifen hat; sondern das Kapitalverhältnis als totales und komplexes Produktionsverhältnis der vergesellschafteten Menschen; nicht das Geld und "der Wert" als solcher, sondern die kapitalistische Warenproduktion, die nur als Selbstverwertung des Wertes funktioniert und die per-fekteste universale Fetischform "Geld" bedingt; nicht die Macht und Verschwörung irgendwelcher "Geldmen-schen", sondern das System der Produktion um der Produktion (von Tauschwert) willen, das System der "freien" Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft, in letzter Instanz ermöglicht durch das kapitalistische Privat- und Klasseneigentum an den Produktions- und Lebensmitteln selbst. Und es gibt kein weltweit einheitliches Interesse "der" transnationalen Konzerne, sondern eine Verschärfung der Widersprüche zwischen konkurrierenden imperialistischen Gruppen und Blöcken (USA/NAFTA und BRD/EU). Der oberflächlichen Analyse entspricht die begrenzte politische Perspektive beträchtlicher Teile der "Antiglobalisierungsbewegung": von der Errichtung eines europäischen Sozialstaats gegen die "Amerikanisierung" des Sozialsytems über die Verteidigung des Nationalstaats gegen das internationale Kapital bis hin zu antimodernistischen Gemeinschaftsvorstellungen reicht die Palette der propagierten Alternativen.

Gegen die alltäglichen Verbrechen des kapitalistischen Systems aber helfen weder Schuldenstreichungen noch Lobbyarbeit, sondern nur die revolutionäre weltweite Auf-hebung der kapitalistischen Warenproduktion und Lohnsklaverei, der Kampf für eine klassen- und staa-tenlose freie Assoziation der ProduzentInnen.

AG Autonome KommunistInnen (AGAK) in der Sozialistischen Studienvereinigung

Sozialistische Studienvereinigung
Mühlgasse 13, 60486 Frankfurt a.M.
E-Mail: sozialistische.studien@gmx.net
Homepage: www.sozialistische-studienvereinigung.frankfurt.org

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