Inakzeptabel für Frankfurt: Eine Veranstaltung im Geiste der postfaktischen Debattenkultur

Offener Brief an OB Mike Josef / Magistrat Frankfurt: Wir sehen uns veranlasst, gegen eine Veranstaltung zu protestieren, die vom Sigmund-Freund-Institut in Kooperation mit dem Dezernat II – Diversität, Antidiskriminierung und gesellschaftlicher Zusammenhalt der Stadt Frankfurt a.M. durchgeführt wird.

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Mike Josef,
Sehr geehrte Mitglieder des Magistrats der Stadt Frankfurt,
Sehr geehrte Mitarbeiter:innen und Freunde des Sigmund-Freud-Instituts, Frankfurt,

wir sehen uns veranlasst, gegen eine Veranstaltung zu protestieren, die vom Sigmund-Freund-Institut in Kooperation mit dem Dezernat II – Diversität, Antidiskriminierung und gesellschaftlicher Zusammenhalt der Stadt Frankfurt a.M. durchgeführt wird.

Am 15.6.2023 referiert Alex Feuerherdt über ein mit Florian Markl verfasstes Buch („Die Israel-Boykottbewegung. Alter Hass im neuen Gewand“) in stadtRAUMfrankfurt (Mainzer Landstraße 293/FFM). Beide sollen ihre Meinungen vertreten, auch in städtischen Räumen. Unser Protest richtet sich allerdings dagegen, dass ein städtisches Amt und eine wichtige wissenschaftliche Institution unserer Stadt ihr Prestige Meinungen leihen, die akademischen Mindeststandards nicht genügen, weil sie eine den herkömmlichen Wissens- und Wahrheitsbegriffen widersprechenden, postfaktischen Debattenunkultur angehören.

Dafür lassen sich viele Belege anführen. Hier mögen zwei Beispiele genügen:

  • Alex Feuerherdt ist bei unterschiedlichen Gelegenheiten im Rahmenprogramm der Ausstellung „1948. Wie der Staat Israel entstand“ aufgetreten. In Tafel 25 („Die arabischen Flüchtlinge aus Palästina“) dieser Ausstellung wird die Nakba, das historische Trauma der Palästinenser, als ein ausschließlich durch diese selbst verursachtes, historisches Ereignis dargestellt. Es werden folgende Fluchtgründe genannt: 1. Generelle Angst vor Kriegsgefahren; 2. Aufrufe zur Flucht durch arabische Führer; 3. Angstpropaganda; 4. Soziokulturelle Aversion (religiös-konservative Muslime wollten nicht unter „Ungläubigen“ leben); 5. Rückkehr in die arabischen Heimatländer (Jahrzehnten vor Israels Staatsgründung eingewanderte Araber kehrten in ihre „Heimatländer“ zurück angesichts einer ungewissen Zukunft). Die willkürlich ausgewählten Quellen/Zitate datieren aus dem Jahr 1965 oder früher. Die anlässlich des siebzigjährigen Bestehens des Staates Israel 2018 konzipierte Ausstellung, lässt die in den 1980er Jahren in Israel von den sog. „neuen Historikern“ geführte Debatte zu Flucht und Vertreibung der Palästinenser völlig außer Acht. Der fachhistorische Streit zu den unmittelbaren Fluchtgründen der Palästinenser im Staatsgründungskrieg 1947/48 kreist nicht um die Frage, ob die Vertreibung von ca. 750.000 Palästinensern durch die Israelis verursacht wurde. Vielmehr geht es um die Frage ob diese als eine Begleiterscheinung der militärischen Auseinandersetzungen kriegsbedingt, aber nicht planmäßig stattfand (so der israelische Historiker Benny Morris), ob es sich um wissentlich und willentlich ins Werk gesetzte Politik der israelischen Entscheidungsträger handelte (so der US-Politikwissenschaftler N. Finkelstein) und ob dabei offener Terror gegen die Zivilbevölkerung planmäßig zum Einsatz kam (so palästinensische Historiker w.z.B. Saleh Abdel Jawad). Völlig außer Betracht bleibt in dieser Ausstellung: Die Nakba umfasst nicht nur das Flucht- und Vertreibungsgeschehen im Kontext des Krieges. Sie wurde bis Anfang der 1950er Jahre juristisch abgesichert durch Gesetze zur Verhinderung der Rückkehr der Vertriebenen und deren entschädigungslosen Enteignung.
  • Florian Markl äußert in einer Youtube-Sendung (taz talk 1.7.2021 / Min 19:45 ff):
    Palästinenser leiden in aller erster Linie unter ihrer politischen Führung (...) Es ist ja nicht großartig Israel, das die Palästinenser unterdrückt und etwas schlimmes mit ihnen anfängt“.
    Dem stehen insgesamt sechs Berichte renommierter regionale und internationaler Organisationen (darunter Amnesty International und die Harvard Law School) entgegen, deren Konsens darin besteht, dass mindestens in den besetzten Gebieten Apartheid nach der Definition des Völkerrechts vorliegt. Dem steht außerdem ein Bericht des wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestags 2017 entgegen, wonach die die Summe der Einzelmaßnahmen der israelischen Verwaltung in den von Israel allein verwalteten sog. C-Gebieten der Westbank dem Begriff ethnischer Vertreibung nach dem Völkerstrafrecht „sehr nahe“ komme. Apartheid wie auch ethnische Vertreibung werden im Völkerrecht als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eingeordnet.

Der Diskurs in der Demokratie setzt voraus, dass man sich auf Fakten einigen kann. Bei Herrn Feuerherdt und Markl sehen wir diese Voraussetzung nicht erfüllt. Sie ignorieren offensichtliche Fakten und den Stand der historischen Forschung. Wer schon bei der Auswahl seiner Quellen sein Desinteresse an einem Diskurs dieser Art zu erkennen gibt, darf in der Demokratie seine Meinung äußern, sollte aber kein Partner staatlicher Institutionen oder seriöser wissenschaftlicher Institutionen sein.

Das Thema der von uns kritisierten Veranstaltung veranlasst dazu, den aktuellen kommunalpolitischen Kontext herzustellen. In Frankfurt hat die Stadtverordnetenversammlung (StVV) am 28.9.2017 einen kommunalen Anti-BDS-Beschluss gefasst. BDS-Vertreter und -Unterstützer sollten nicht in städtischen Räumen auftreten dürfen. Dessen Vereinbarkeit mit Recht und Gesetz sollte der zuständige Dezernent Uwe Becker vor Umsetzung belegen. Dies hat er nie getan, vielmehr hat er den Beschluss ohne Rechtsgrundlage umgesetzt. Dabei stieß er weder im Magistrat noch in der StVV auf Widerspruch.

Im Januar 2022 ordnete das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 20.01.2022 - BVerwG 8 C 35.20) die kommunalen Anti-BDS-Beschlüsse bundesweit als verfassungswidrig ein, u.a. wegen Unvereinbarkeit mit Art. 5 GG (Meinungsfreiheit). Ein Jahr zuvor urteilte der Hessische Verwaltungsgerichtshof (HVGH 4.12.2020 / Az. 8 B 3012/20) in analoger Weise. Der damals zuständige Dezernent Uwe Becker setzte sich mit seiner Antwort auf eine Anfrage des rechtspolitischen Sprechers der FDP in skandalöser, zynischer und expliziter Weise über das Votum des höchsten hessischen Verwaltungsgerichts Hessens hinweg (vgl. Antwort Becker auf Frage Dr. Schulz). Beckers Antwort belegt unzweideutig: Der Dezernent verletzte die Verfassung nicht aus Unkenntnis sondern vorsätzlich. Nach dem BVerwG-Urteil schloß sich Frau Eskandari-Grünberg der von Uwe Becker angeführten Reihe derjenigen an, die öffentlich für eine Umgehung des rechtskräftigen BVerwG-Urteils plädierten. Es werde „Aufgabe des Magistrats sein zu schauen, wie an dem richtigen Beschluss festgehalten werden kann“ (9.6.2022. Jüdische Allgemeine).

Es geht hier nicht nur um den rechtlichen Aspekt, sondern auch um andere Probleme und Widersprüche:

Zunächst: Bekämpfung des Antisemitismus kann nur dann nachhaltig und mehrheitsfähig sein, wenn dieses Anliegen im Rahmen unserer Verfassung verfolgt wird und nicht im Widerspruch zu ihr. Das sollte man keinem Amtsträger erklären müssen, der vorgibt diesem Anliegen verpflichtet zu sein.

Frau Eskandari-Grünberg ist als Dezernentin u.a. für „Antidiskriminierung und gesellschaftlicher Zusammenhalt“ zuständig. Mit dem Anti-BDS-Beschluss wurden in verfassungswidriger Weise insbesondere jene Bürger dieser Stadt diskriminiert, die bzw. deren Kinder durch in die Zuständigkeit der Dezernentin fallende, kommunale Programme (z.B. „Demokratie leben / Aufbau von Jugendverbandsarbeit in Moschee-Gemeinden) für Demokratie, Freiheit und Rechtstaatlichkeit“ und die „Grundsätze des demokratischen Rechtsstaats“ gewonnen werden sollen. Zu dem in erster Linie diskriminierten Personenkreis zählen nicht nur die in Frankfurt lebenden Palästinenser sondern v.a. auch die etwa hier lebenden ca. 100.000 Muslime. Diese erfahren die Ausblendung der Konfliktperspektive und Menschenrechtslage der Palästinenser in Deutschland weit überwiegend als einen ergänzenden Aspekt ihrer eigenen Diskriminierung in Deutschland. Frau Eskandari-Grünberg bekundet offen mit ihrer diskriminierenden und verfassungswidrigen Praxis fortfahren zu wollen.

Wir denken, hier stellt sich ein massives Glaubwürdigkeitsproblem für den Magistrat im Allgemeinen und für die genannte Dezernentin im Besonderen. Dieses Problem wird dadurch verschärft, dass in der Frankfurter Politik bisher niemand politische Verantwortung dafür übernommen hat, dass in dieser Stadt Grundrechte vorsätzlich über Jahre in verfassungswidriger Weise eingeschränkt wurden. Das allgemeine Rechtsgefühl wird dadurch massiv beschädigt.

Unterzeichner: Wieland Hoban, Vorsitzender Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.; Herbert Kramm-Abendroth, Helmut Suttor (Titania-Gruppe-Frankfurt), Björn Luley, Leiter verschiedener Goethe-Institute i.R.

Pressemitteilung 11.6.2023