Über Antisemitismus, Neo-Nazis und Zivilcourage in Frankfurt am Main

Wolfgang Leuschner, Aktivist der Initiative 9. November und langjähriger Mitarbeiter des Sigmund-Freud-Instituts, hat ein Papier veröffentlicht, in dem er auf der Basis einer Analyse antisemitischer Aktivitäten und Naziorganisationsformen in Frankfurt kritisch zur öffentlichen Debatte über die Arbeit unterschiedlicher antifaschistischer Gruppierungen Stellung nimmt und sich dabei begründet auf die Seite der Anti-Nazi-Koordination stellt: “Über Antisemitismus, Neo-Nazis und Zivilcourage in Frankfurt am Main”. Im Hinblick auf die öffentlich Debatte der Ereignisse des diesjährigen 1. Mai in Hamburg wirkt Leuschners Analyse höchst aktuell.

 

Über Antisemitismus, Neo-Nazis  und Zivilcourage in Frankfurt am Main


In letzter Zeit erweisen sich die politische Führung, die Parteien, Justiz, Medien und die
Polizei unserer Stadt als unfähig, einen zunehmend offen und zunehmend gewalttätig
sich äußernden Antisemitismus wirksam in die Schranken zu weisen. Zur Rechtferti-
gung ihres Unvermögens weisen ihre Vertreter zwar immer wieder auf die Rechtslage
hin, dass NPD und DVU nicht verboten seien. Gleichzeitig erweisen sie sich als blind
für die Möglichkeiten, eigene Macht konsequent zu nutzen und zu präsentieren. Ersatz-
weise rufen sie die Bevölkerung auf, gegen „braune Flut“ und den Antisemitismus Zi-
vilcourage und aufrechte Gesinnung zu zeigen. Zugute halten könnte man dem noch den
Gedanken, dass das Problem des Antisemitismus und der Staatsfeindschaft nicht auf die
Existenz und Aktivität von rechtsextremen Parteien beschränkt ist und insofern eine Sa-
che aller. Die Ereignisse zeigen jedoch immer wieder, dass couragiertes Handeln ange-
sichts des Ausmaßes von Gewalt, mit der man es zu tun bekommt, Einzelne völlig über-
fordert und zu sehr ängstigt, zumal sie sich durch das Verhalten von Polizei und Justiz
regelmäßig allein gelassen und demotiviert sehen. Wie auch nicht, wenn eine insbeson-
dere durch ihren Legalismus sich selbst lähmende Staatsmacht versagt.

Zur Organisationsweise der Neonazis

Die Gründe für dieses Versagen aller liegen in der Unschärfe, in der Schwerfassbarkeit
der Organisationsstrukturen der Extremisten. Antisemitismus/Rassismus sind alles an-
dere als ein Problem von ein oder zwei Parteien und ihren Vorständen (die die CDU
meint im Auge behalten zu müssen und damit bekanntlich deren Verbot unmöglich
macht). Vielmehr sind die Neo-Nazis als eine diffus daherkommende „Bewegung“ or-
ganisiert, als weit verzweigtes Netzwerk einer primär sozialpsychologisch bestimmba-
ren „Gesinnungsmasse“, das von Menschenhass und Größenwahn gezeugt und von
Strukturen zusammengehalten wird, die weit mehr als die zugelassenen Parteiapparate
umfassen, sondern ins bloß Psychologische hineinreichen oder von ihm ausgehen. Das
Organisationsprinzip folgt dem Konglomerat-Modell eben des „Systems“, das sie im
Staat sehen und abschaffen wollen.
Zu seiner Bildung und seinem Erhalt braucht es keine Führer, wer sie sucht, sucht ver-
gebens. Das „Netz“ umfasst verschiedene Untergruppierungen: im Untergrund gut orga-
nisierte Kader, (einige von ihnen sollen langfristig als Avantgarde fungieren, vergleich-
bar der Vorreiter-Rolle die einstmals die SA innehatte). Dazu gehören ferner Nazirock-
bands, rechtsextreme Studentengruppen, web-site-Netzwerke und zur Peripherie hin
auch lose organisierte Schlägergruppen, Stammtische und spontan sich bildender Mob.
Selbst Einzelgänger, die bei antisemitischen Taten gefasst worden sind und nicht mit
Naziparteien oder -gruppen kooperieren, sollte man diesem Netzwerk hinzurechnen. Sie
assoziieren sich ihm oft nur vorübergehend, sind darin aber wenigstens ideell eingebet-
tet und folgen „stillen“ Mandaten, die man mit posthypnotischen Aufträgen vergleichen
könnte. Zum Rande hin ist das Netzwerk offen und anschlussfähig auch für ambivalente
bürgerliche Schichten. Insgesamt kann man es  – um ein Bild aus der Biologie zu ge-
brauchen –  mit Wechseltierchen vergleichen, die mit ihren Pseudopodien zu einem
großflächigen Geflecht oder Organismus-Verbund zusammenzufließen vermögen.
Sein „Gravitationszentrum“ bildet ein kollektiv angestrebtes Handlungsziel, das noch
nicht öffentlich benannt werden darf, auf das sie (noch) nur stillschweigend hindrängen,
das jedoch langfristig laute Tat werden will. Die Neonazis selbst bezeichnen es als
„Tabu“, das  – wie es in einem Nazirocklied heißt – ihnen „die Kehle zuschnürt“ und sie
meinen damit eine Hasslust, Ressentiments anzuheizen, Pogrome anzustacheln und
schließlich Juden und andere Minderheiten wieder zu vernichten. Belege für diese Be-
hauptung sind zu finden in unverhüllten Äußerungen bei geheimen Versammlungen
junger Nazikader, in den Hassgesängen der so genannten Nazirock-Musik, bei Bemer-
kungen, mit denen die Gewalttaten gegen Migranten und Hilflose vom Zuschauer-Mob
begleitet werden oder auch – wie es im Falle eines Vorstandsmitgliedes der Initiative 9.
November bis heute zu sehen ist – im Internet in Morddrohungen und Karikaturen à la
Stürmer und schließlich in ihren Taten.
All dies ist aber erst möglich, weil es vom Rechtsstaat hingenommene Parteien gibt, die
als deren sicheres „Gehäuse“ fungieren können. Insofern sind diese Parteien – trotz ih-
res manchmal geradezu lächerlichen Erscheinungsbildes -  wesentlicher Teil des Netz-
werkes, also pseudolegaler Arm einer kriminellen Vereinigung. D. h., NPD und DVU
schaffen im Öffentlichen jenen Raum, unter dessen Schirm die kryptisch gehaltenen
Gesinnungen sich beheimaten, weiterentwickeln und die Kader und ihre „Gesinnungs-
Ausbildungslager“ weiter ausbauen können.  
Um diese „Gehäuse“ -Funktion langfristig erfüllen zu können, ist es das spezielle Ziel
dieser Parteien, die Gewährleistungsfunktion und damit die Teilhabe am Netz zu vertu-
schen. Es geht ihnen darum, nach Außen hin genau jene Legalität zu präsentieren und
damit jene öffentliche politische und juristische Ohnmacht zu erzeugen, die Politik und
Justiz heute ins Feld führen, wenn sie gegen diese Parteien glauben nicht vorgehen zu
können. Das basale Gewährleisten von Kadern, Gesinnungsmob und „Hetzmeuten“ darf
nicht gefährdet werden. Zudem schafft das Anschlussmöglichkeiten für zunächst furcht-
sam Nichtorganisierte, die die Gesinnungen teilen. So zielen die Strategien und Takti-
ken der Antisemiten also darauf, ihre Absichten möglichst im Bereich von „Vorstraftat-
beständen“ zu halten, so dass ihr Tun in den toten Winkel der Justiz und der Verfas-
sungsorgane fällt.
Dies suchen sie zu allererst durch arbeitsteiliges Vorgehen zu erreichen. Um dessen
Prinzip zu verdeutlichen, sei auf die Technik des rassistischen „Wechselgesanges“ hin-
gewiesen. Wie man z.B. in der Nazi-Rock-Szene beobachten kann, werden dazu Aussa-
gen in Teile zerlegt. Diese Teile werden dann von jeweils unterschiedlichen Personen
oder Personengruppen geäußert bzw. „aufgeführt“. So singt eine Naziband z.B. den
Text „wir machen Deutschlands Straßen“, singt den Text jedoch nicht weiter, um an ih-
rer Statt die Fans das vereinbarte Ende „türkenfrei“ grölen zu lassen. Zusammengezo-
gen ist die Sache gesagt, keiner scheint jedoch haftbar gemacht werden zu können.
Eine weitere Technik besteht in der Verundeutlichung konkreter Vorstellungen und
Vorhaben, eindeutiger Zeichen und Symbole. Sprachliche Aussagen und Bilder, die
die Ziele und die Zugehörigkeit zur rechtsextremen Organisation zum Ausdruck bringen
sollen, werden dabei nur in angenäherter Form formuliert oder gezeigt. Aus „Heil Hit-
ler“ wird „H H“ oder „8 8“, aus der „jüdischen Weltverschwörung“ das Wort „Ostküs-
te“, genutzt werden Erkennungszeichen, die scheinbar nichts mit einem rassistischen
Ziel zu tun haben (weiße Schnürsenkel in Springerstiefeln, Lonsdale-Pullover), die sich
durch Vereinbarungen schnell auswechseln  lassen. Operiert wird also mit Verschiebun-
gen auf scheinbar bedeutungslose Nebenaspekte.
Ihren Menschenhass rechtfertigen die Antisemiten damit, dass sie sich den Vernich-
tungsabsichten ihrer Feinde ausgesetzt sehen; sie betrachten sich also als deren Opfer
und zwar im Kollektiv, dem sie sich zugehörig fühlen. Ihr „Denken“ operiert dabei mit
Umkehrung und Projektion. Ihre Organisationen und Netzwerke sind folgerichtig das
Abbild dessen, was sie behaupten, bei den Juden der so genannten „Ostküste“ vorgefun-
den zu haben. Um die Projektionen wahrer erscheinen zu lassen, operieren sie mit der
Technik, Minderheiten systematisch solange zu provozieren, bis diese sich wehren, um
aus diesen Re-Aktionen dann die Legitimation zum „Gegenschlag“ zu beziehen.
Auf diese Taktiken der Arbeitsteilung, auf diese Produktion der Verschleierung ist hin-
zuweisen, um damit deutlich zu machen, dass das, was Politik, Justiz und Medien lan-
desweit, aber eben auch in Frankfurt gegen die Neo-Nazi-Bewegung unternehmen, un-
angemessen, ja sträflich ignorant ist. Indem die staatlichen und städtischen Ordnungs-
mächte legalistisch bleiben, erliegen sie der Strategie ihrer Feinde. Wer Zivilcourage
fordert, muss wissen, dass er eine Konfrontation mit einer „Bewegung“ verlangt.

Zur Situation der Frankfurter Anti-Nazi-Gruppen

Deshalb ist es angemessen, dass sich die Menschen in Gruppen, in Bürgerinitiativen or-
ganisieren. In Frankfurt kann man allerdings beobachten, wie sie auch dabei nicht nur
nicht ausreichend unterstützt, sondern in ihrer Arbeit irritiert, allein gelassen und falsch
bewertet werden. Unter anderem deshalb auch ist die Frankfurter Protestbewegung ge-
spalten, in ein „Römerbergbündnis“ und die „Anti-Nazi-Koordination“. Während das
„Römerbergbündnis“ auf friedliche „Haltungen“, Distanz und rote Karten setzt, stellt
ihm die Anti-Nazi-Koordination „zivilen Ungehorsam“ und Konfrontation entgegen.
Dieser Unterschied ist entscheidend und man kommt - aus der oben dargelegten Per-
spektive heraus betrachtet - nicht umhin, Partei zu ergreifen. Denn es ist vor allem die
Anti-Nazi-Koordination, die eben jenes dunkle und gefährliche und (diffus) organisierte
Gewaltbestreben des Neo-Nazi-Netzwerkes ernsthaft ins Auge fasst und anzugehen
sucht.
Weil staatliche Repressionsmittel nicht angewendet werden und weil sich Ordnungs-
mächte für das Gesamt der Neo-Nazi-Bewegung blind geben, bleibt es dieser Gruppe
überlassen, die Gesinnungen, die Substrukturen und die geheimen Verbindungslinien
zwischen legalen Parteien und den rechtsextremistischen Untergrundstrukturen zumin-
dest ansatzweise öffentlich sichtbar zu machen. Es ist die Anti-Nazi-Koordination, die
hier die Neo-Nazis provoziert, jenes Latente, die untergründigen Seite, die auf rassisti-
sche und antisemitische Gewalt aus ist und das Wesentliche dieser Bewegung ausmacht,
ans Tageslicht zu bringen. Das ist ihr großes Verdienst und sonst müsste es sie gar nicht
geben. Davon profitieren schließlich Römerbergbündnis und die Stadt.
Erstaunlicherweise reagieren Politik, Ordnungsmächte und Medien aber paradox. An-
statt die Leistung dieser Gruppierung anzuerkennen, wird deren „ziviler Ungehorsam“
gegen den Staat und die Stadt gerichtet interpretiert und behandelt. Von dieser Gruppie-
rung aufgedeckte antisemitische Vorkommnisse, die  - dem öffentlichem Verständnis
folgend – längst  „justiziabel“ sind, wurden und werden nicht zur Kenntnis genommen
oder bagatellisiert; die Polizei griff nicht entschlossen oder überhaupt nicht ein (siehe
Demonstration der Neonazis am 7.7.07). Wo sich Staatsmacht als Bestärkung und Si-
cherung des von ihr aufgerufenen kritischen Bürgersinns hätte präsentieren und bewäh-
ren müssen, ließ und lässt sie diese Menschen im Stich. 
Problematisch erweisen sich zudem Implikationen einer neuen Polizeistrategie, die den
Neo-Nazis letztlich auch wieder in die Hände arbeitet: wenn sich etwa 8.000 Polizisten
zwischen 80 Rechtsradikale und mehrere Hundert oder Tausend Gegendemonstranten
stellen, so entsteht in den Köpfen der Menschen unumgänglich die Frage, wer oder was
eigentlich das Problem ist. Solche Vorgehensweisen wecken Psychologie, sie erregen
die irrige Vorstellung, das Problem wären drohende und zu verhindernde Auseinander-
setzungen zwischen Rechtextremen und Nazi-Gegnern. Es ginge um einen Gewaltkon-
flikt wie er sich vergleichbar zwischen Hooligans zuträgt. Es ginge also nicht um einen
Widerstand gegen eine antisemitische und rassistische Bewegung.
Damit macht man aus der Anti-Nazi-Koordination eine zu fürchtende quasi-pubertäre
Bewegung, auf gleichem Niveau agierend wie die Neo-Nazis. Vor dem Polizeiknüppel
– möchte man sagen – erscheinen nun alle Demonstranten gleich und gleich unverant-
wortlich handelnd. Die Polizei selbst gibt sich paternalistisch, tritt auf als neutrale dritte
Kraft und als wirksamer Garant staatlicher Ordnung ohne politische und moralische Po-
sition. Damit wird das Problem neu eingekleidet, an einem anderen Ort lokalisiert, wo
es nicht hingehört.
Das heißt, dass die Frankfurter Ordnungspolitik im Umgang mit den Neo-Nazis nicht
bloß mit rechtlich gebundenen Händen da steht, sondern tendenziell das „gemeinsame
Agieren aller Demokraten“ untergräbt, faktisch und psychologisch. Sie fördert eben
jene Tendenzen, die Römerbergbündnis und Anti-Nazi-Koordination unterschiedliche
Vorstellungen entwickeln lassen, was angemessene Gegenmaßnahmen sind. Unüberseh-
bar ist auch, dass sich diese Unterschiede nun um einen Gegensatz von älterer und jün-
gerer Generation herum aufbauen können und auch von daher, gewissermaßen aus „ödi-
palen“ Quellen heraus, in Gefahr sind, sich weiter zu vertiefen. Ein immer notwendig
herzustellender Konsens der Stadtgesellschaft darüber, was die eingeforderte Zivilcou-
rage praktisch bedeutet, kommt allein deshalb nicht mehr zustande.
In diesem Zusammenhang ist besonders die Rolle lokaler Medien und einiger Presseor-
gane zu kritisieren. So vertun etwa „öffentlich rechtliche“ Hessischer Rundfunk und
Hessisches Fernsehen die Chance, die Organisationsstrukturen, die Strategien und Akti-
vitäten der Antisemiten und Rassisten darzustellen. Lägen ihre besonderen Möglichkei-
ten doch darin, gerade über die latenten und frühen Äußerungsweisen des Antisemitis-
mus, die Organisationsmechanismen der sich in Grauzonen des antisemitischen Netz-
werkes organisierenden Gruppen und die Vorurteils- und Mobbildungen immer wieder
kritisch aufzuklären, also besonders das, was den Grad von offener Rechtsverletzung
noch gar nicht oder nicht mehr erreicht hat.
Stattdessen werden von ihnen selbst die manifesten Straftaten der Neo-Nazis vielfach
verharmlost oder ignoriert. Den problematischen politischen, polizeilichen und juristi-
schen Umgang mit ihnen stellen sie kaum in Frage. Auch sie treten wie Schiedsrichter
auf, die ihre Neutralität zu wahren und zwischen Streithähnen zu vermitteln hätten. Als
ob es hier Neutralität geben könnte! Auch stellen sie sich nicht vor oder neben jene, die
die geforderte Zivilcourage aufbringen und damit in Bedrängnis geraten sind. Ja, oft-
mals ist zu beobachten, wie Protestaktionen in den Berichten dieser Medien entstellt, in
flapsiger oder hämischer Weise verunglimpft oder komplett ignoriert werden.
Dieses spezielle Versagen „vierten Gewalt“ ist als besonders sträflich zu bezeichnen,
weil sie - mehr noch als die städtischen und staatlichen Verwaltungsorgane und die Jus-
tiz - es in der Hand haben, ob die Bürger in dieser Stadt tolerant miteinander umgehen
oder nicht. Sie können Gesetzgebungen anregen oder infrage stellen können, sie können
Solidarität befördern. Speziell an die Medien in dieser Stadt ist daher die Frage zu stel-
len, inwieweit sie es sind, die die geforderte Courage, den geforderten zivilen Wider-
stand gegen Antisemitismus und rechte Gewalt verwirren oder behindern, inwieweit ge-
rade sie damit zum Teil des Problem geworden sind, das sie beauftragt sind mitzuver-
hindern. 

Frankfurt, den 2.4.08 
Wolfgang Leuschner
Mitglied der Initiative 9. November

 

Webseite der Anti-Nazi-Koordination
http://antinazi.wordpress.com

Beitragende
wolfgang leuschner