Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 133: Kapitalismus in Russland
Die Diskussionslage auf der Linken ist im Frühjahr 2023 stark geprägt durch weitere Eskalationsschritte im Zeichen von Ukraine-Krieg und „Zeitenwende“, durch die gewerkschaftlichen Kämpfe gegen Reallohnsenkungen im Kontext der Inflationskrise und durch die Auseinandersetzungen um die Klimaproteste.
Dazu äußern sich in den Kommentarspalten u.a. Ralf Krämer, Werner Ruf, Willi van Ooyen und Elke Steven.
Kapitalismus in Russland: Dieter Segert untersucht in einer historisch-vergleichenden Analyse, was für ein Kapitalismustyp sich nach 1991 in Russland und der Ukraine entwickelt hat. Ausgehend vom Konzept der ‚varieties of capitalism‘ grenzt er den in beiden Ländern entstandenen Kapitalismustyp als „postsowjetischen Kapitalismus“ von anderen in Osteuropa nach 1989 entstandenen Typen ab. Als Merkmale hebt er u.a. eine passive „eigentumslose arbeitende Bevölkerung“ und unterschiedliche Ausformungen von Nationalismus als „gesellschaftlichem Kitt“ hervor.
Im theoretischen Rahmen der Regulationstheorie analysiert Julien Vercueil Akkumulationsregime und Regulationsweise des russischen Kapitalismus als jene Kernstrukturen, die sich nach der Krise der 1990er Jahre herausgebildet haben. Basierend auf dem Export energetischer Rohstoffe wird die Kapitalakkumulation in Richtung und Tempo von Rohstoffrenten und außenwirtschaftlichen Faktoren bestimmt. Die dem entsprechende Regulationsweise basiert auf der Kooperation zwischen hochkonzentrierten Industriegruppen und dem Staat, dessen Herrschaftssystem zunehmend um den Präsidenten herum organisiert sei.
Lutz Brangsch beschäftigt sich mit der jüngeren Wirtschaftsentwicklung in Russland, die einerseits durch die sich seit 2014 verschärfenden westlichen Wirtschaftssanktionen und andererseits durch Versuche zur Diversifizierung und Binnenorientierung der Wirtschaftsstrukturen geprägt ist. Vor diesem Hintergrund verändern sich auch die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit. Die Umbau- und Modernisierungsversuche kommen zwar nur langsam voran, sie seien aber nicht als gescheitert zu betrachten.
Judith Dellheim streift durch die Geschichte der Industrialisierung und des Kapitalismus in Russland von deren Anfängen im Zarenreich bis zur Gegenwart. Ihre Kernthese ist, dass die Art und Weise, wie nach der Oktoberrevolution insbesondere unter Stalin die Industrialisierung ohne Rücksicht auf Verluste angegangen wurde, sowohl wesentlich den Niedergang der Sowjetunion erklärt als auch Ausrichtung und Disproportionen der heutigen russischen Wirtschaft und des modernen russischen Kapitalismus. Schon Lutz Brangsch hatte gezeigt, wie stark sich der Ukraine-Krieg auf die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft Russlands auswirkt.
Tatjana Apanesenko sucht die Erklärung für den Ukrainekrieg in dem US-amerikanischen Versuch, Russland als Konkurrenten auf dem Erdöl- und Gasmarkt zu verdrängen, wenn nicht gar auszuschalten. Gleichzeitig analysiert sie die russische Geldpolitik zu Zeiten des Krieges und sieht hier wenig Chancen, eine erfolgreiche Entwicklung Russlands voranzutreiben.
Erhard Crome geht auf die diplomatische Dimension der aktuellen geopolitischen Auseinandersetzungen ein und zeigt auf, wie hier nicht zuletzt durch den Westen und die militärische Reaktion Russlands der Konflikt um russische Sicherheitsinteressen und das Schicksal der Ukraine forciert wurde und wird. Der Autor macht deutlich: Die Bundesrepublik darf ihre eigene friedenspolitische Verantwortung nicht ablegen, sich nicht mit der Rolle als Juniorpartner der USA zufrieden geben und muss stattdessen begreifen, dass ein eigenständiges Europa ohne vernünftige Beziehungen zu Russland nicht möglich ist.
Z 133 (März 2023), 224 Seiten. Einzelheftbezug 10,-Euro
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