Zur Frage der Glaubwürdigkeit Meron Mendels als Dialogbetreiber im Anschluss an die Documenta-Debatte

Offener Brief an Prof. Meron Mendel

Sehr geehrter Herr Prof. Mendel,

ich habe auf der gestrigen Diskussionsveranstaltung der Anne-Frank-Bildungsstätte eine Frage aufgeworfen, die einen direkten Bezug hatte zu dem vorgeblichen Anspruch, wie er auf Ihrer Website formuliert wurde:

„Das Podium will Positionen der Antisemitismuskritik, der Rassismuskritik und des Postkolonialismus in einen Dialog bringen, jeweilige Leerstellen kritisch in den Blick nehmen und den verhärteten Fronten in dieser Debatte möglichst konstruktiv eingegenarbeiten.“

So weit der Anspruch.

Meine Frage bezog sich auf Ihre Glaubwürdigkeit und die der Institution, für die Sie stehen, wenn Sie einerseits in der Öffentlichkeit eine Vermittler- und Führungsrolle für einen Dialog anstreben und andererseits ein seit Jahren ungeklärtes Verhältnis zum Grundrecht auf Meinungsfreiheit haben. In diesem Zusammenhang verwies ich auf Ihre Unterstützung der BDS-Bundestagsresolution (15.5.2019) durch einen Aufruf vom 16. Juli 2019: Appell an Bundesregierung: BDS ist Form des heutigen Antisemitismus, in dem es u.a. heisst:

„Wir appellieren daher an die Bundesregierung und alle ihre Ministerien, sich in aller Klarheit den Beschluss des Bundestages zu eigen zu machen, um der BDS-Kampagne keinen Raum zu bieten.“

Der BDS-Bundestagsbeschluss und der von Ihnen mitunterzeichnete Aufruf zu seiner Unterstützung fordert zu einer verfassungswidrigen Einschränkung v.a. des Grundrechts auf Meinungsfreiheit auf. Das ergibt sich aus einem am 20.1.2022 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVwerwG – Urteilsbegründung hier), veröffentlicht drei Wochen nach dem Beitrag der des Bündnis gegen Antisemitismus – Kassel (BGA-Kassel) „Documenta fifteen: Antizionismus und Antisemitismus im lumbung“, mit dem die Debatte über Antisemitismus auf der Documenta ausgelöst wurde.

Selbstevident sollte sein: Ein Dialog setzt die gleichberechtigte Teilnahme Aller an demselben voraus. Nach dem Grundgesetz gibt es keine Meinungsfreiheit erster und zweiter Klasse. Vor diesem Hintergrund stellte ich die Frage nach Ihrer Glaubwürdigkeit als Vermittler und Brückenbauer über die „verhärteten Fronten in dieser Debatte“ hinweg. Wenn dieser Dialog auch Palästinenser einschließen soll, ist Ihr Glaubwürdigkeitsproblem offensichtlich: Sie sind mit Ihrer Unterstützung des BDS-Beschluss über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren für die Einschränkung der Meinungsfreiheit dieser Gruppe eingetreten und meinen jetzt die Rolle des Vermittlers übernehmen zu können, ohne öffentlich zu klären, wie Sie es mit Meinungsfreiheit und BDS-Beschlüssen zu halten gedenken.

Dieses Glaubwürdigkeitsproblem zu thematisieren war das Anliegen meiner Frage.

Ihre Reaktion war sozusagen klassisch i.S. einer verwahrlosten Debattenkultur, deren Überwindung der Zweck der Ihrer Veranstaltung eigentlich sein sollte. Sie wurden in beleidigender Art und Weise persönlich und konnten so, auch dank einer semiprofessionellen Diskussionsleitung, einer Antwort aus dem Wege gehen. Sie würden mich kennen als jemanden, der Fake News und Lügen verbreitet. Mich hat Ihr Verhalten verblüfft. Dass Sie Ihre Unterstützung des BDS-Bundestagsbeschlusses als Tatsache bestreiten, konnte ich mir nicht vorstellen. Wenn ich in freier Rede einen falschen oder missverständlichen Ausdruck für den von Ihnen mitunterzeichneten Aufruf verwendet haben sollte, hätte es akademischen Sitten und einer guten Dialog-Kultur entsprochen, dies durch Rückfragen zu klären, anstatt mit Lügenvorwürfen zu hantieren. Sie wollten an dieser Stelle nichts klären. Offensichtlich ging es Ihnen darum die Frage abzuwiegeln aus welchen Gründen auch immer.

Das Thema Wahrheit und Lüge überlasse ich dem Urteil erwachsener Menschen, die sich an hand der (hoffentlich nicht selektiv gekürzten) Internetaufzeichnung der Veranstaltung ein Bild machen können.

Statt dessen möchte ich auf die Relevanz meiner Frage im Kontext der Documenta-Debatte zu Antisemitismus eingehen.

Erstens: Sie äußerten vor zwei Tagen „Wir haben die Chance verpasst, vor der documenta zwischen Januar und Juni einen Dialog zu starten“. Zwischen Januar bis Juni wurde v.a. auch verpasst, klarzustellen, dass den BDS-Beschlüssen durch das höchste zuständige Gericht Verfassungswidrigkeit und Unvereinbarkeit mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit testiert wurde. Die Weichenstellung zur Debatte zwischen Januar und Juni ergab sich aus der Argumentation des BGA-Kassel. Diese implizierte, die BDS-Beschlüsse seien noch in Kraft und sie hätten offiziellen, quasi gesetzlichen Charakter. Weil die BDS-Beschlüsse im Widerspruch zur Rechtsprechung BDS und BDS-Unterstützung mit Antisemitismus in Verbindung bringen, konnten zwischen Januar und Juni Indizien für Antisemitismus, abgeleitet aus BDS-Unterstützung oder -Sympathie, angehäuft werden. Wäre im Januar von Medien, Zivilgesellschaft und Politik klargestellt worden: BDS-nahe Künstler genießen ein Recht auf Meinungsfreiheit und uneingeschränkte Teilnahme am Kunstbetrieb, BDS-Nähe ist per se kein Indiz für israelbezogenen Antisemitismus, genauso wenig wie Sympathie für Israel per se kein Indiz für palästinenserbezogenen Rassismus ist, dann wäre die Debatte zwischen Januar und Juni anders verlaufen.

Zweitens: Das Urteil des BVerwG wird nicht nur ignoriert. Es gibt aus der Zivilgesellschaft und durch staatliche Amtsträger teils implizite, teils explizite Aufforderungen, das Urteil zu umgehen. Frontalangriffe auf das Urteil sind von Uwe Becker, dessen Nachfolgerin im Frankfurter Bürgermeisteramt Eskandari-Grünberg und vom Zentralratsvorsitzenden Josef Schuster und vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Felix Klein bekannt. Becker erhob es zur Gewissenspflicht das Urteil zu umgehen, mit dem an das BVerwG gerichteten Vorwurf es habe „grünes Licht für die Verbreitung von israelbezogenem Judenhass in Deutschlands Städten gegeben“, so am 3.2.2022 in der Jüdischen Allgemeinen. Eskandari-Grünberg formuliert unumwunden: „Es wird Aufgabe des Magistrates sein, zu schauen, wie an dem richtigen Beschluss festgehalten werden kann“, so am 9.6.2022 in der Jüdischen Allgemeinen. Die Jüdische Allgemeine wird vom Zentralrat der Juden herausgegeben, dessen Vorsitzender Josef Schuster ist. Dieser hat sein scheinbar notorisch gebrochenes Verhältnis zum Grundrecht auf Meinungsfreiheit zum wiederholten Male wie folgt zum Ausdruck brachte: „BDS-Ideologen die staatlich finanzierten Räume zu nehmen, in denen sie sich aktuell bewegen, ist kein Ausdruck von Zensur. Das ist notwendig, wenn man die Antisemitismus-Bekämpfung ernst nimmt.“ Felix Klein fordert im September 2022, also Monate nach dem Urteil des BVerwG, die Umsetzung des Bundestagsbeschlusses von 2019 zur antiisraelischen Boykottkampagne BDS an: "Mit allen politischen und gesellschaftlichen Mitteln müssen wir gegen die BDS-Bewegung vorgehen."

Der rechtspolitische Sprecher der FDP in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung Dr. Schulz machte bei Bürgermeister Becker eine „gezielte Missachtung unseres Grundgesetzes und der Justiz“ aus (Brief 21.1.2021 an OB Feldmann). Dies bezog sich auf dem Umgang Beckers mit dem Frankfurter BDS-Beschluss in der Zeit von 2017-2021, dessen Rechtmäßigkeit er begründen sollte, aber nicht konnte. Darüber wurden Sie und die anderen Unterzeichner des o.g. Aufrufs von unserer Frankfurter Gruppe im Mai 2020 in Kenntnis gesetzt (Presseerklärung). Sie haben sich weitere Mitteilungen verbeten. Andere aus Ihrem Kreis antworteten mit Antisemitismusvorwürfen. Ihre damalige Reaktion werte ich als Beleg dafür, dass Sie schlicht kein Interesse hatten sich mit den Problemen einer verfassungskonformen Bekämpfung des Antisemitismus auseinander zu setzen. Im konkreten Fall war dies identisch mit einem Desinteresse an der palästinensischen Konfliktperspektive in diesem Kontext.

Becker propagiert mit seinen Aussagen zum Urteil des BVerwG in der Jüdischen Allgemeinen vom 3.2.2022 die Fortsetzung des Verfassungsbruchs auf Bundesebene, den er in der Zeit vom 2017 bis 2021 als Dezernent in Frankfurt auf kommunaler Ebene durchexerziert hat.

Auch vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage der Glaubwürdigkeit auf nachhaltiger Basis, wenn Sie heute als Vermittler und Dialog-Betreiber unterwegs sind. Eine Haltung des Wegschauens, wenn die Meinungsfreiheit der Palästinenser trotz höchstrichterlichen Urteils weiterhin in Frage gestellt wird, dürfte mit einem Dialog, der auch die Palästinenser einbezieht, nicht kompatibel sein.
Das rechtliche Problem stellt sich im Übrigen auch im Interesse des eigentlichen Anliegens, um das es gehen sollte: Antisemitismusbekämpfung kann nicht nachhaltig sein, wenn Sie im rechtsfreien Raum stattfindet. Auch das sollte selbstevident sein.

Es gibt offensichtlich viele Gründe, die hier angesprochene Grundfrage zu klären.

Mit freundlichen Grüßen

Helmut Suttor

Die Debatte der Bildungsstätte Anne Frank kann hier online nachverfolgt werden: https://www.youtube.com/watch?v=JLlYF6WYuQU   (Min: 1:16 - 1:21)