Einschränkung der Meinungsfreiheit auch in Frankfurt, nicht nur „hinten weit in der Türkei“ (Zitat Goethe)

In der „Woche der Meinungsfreiheit“ soll es um die Einschränkung dieses elementaren Grundrechts gehen. Wir müssen uns bei diesem Thema allerdings nicht darauf beschränken, in ferne Länder zu gehen (Iran, Türkei) oder Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse aufzugreifen (Bücherverbrennung). Wir können uns auf die Gegenwart hierzulande beziehen.

In Deutschland wurde und wird die Meinungsfreiheit im Kontext der Anti-BDS-Beschlüsse massiv eingeschränkt. Das ergibt sich aus einem rechtswirksamen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG / Az 8 C 35/20) vom 20.1.2022 zum Anti-BDS-Beschluss des Münchner Stadtrats. Dieses Urteil ordnet diese Beschlüsse als verfassungswidrig ein. Sie stehen im Widerspruch zur Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) und anderen Grundrechten.

BDS ist eine zivilgesellschaftliche, palästinensisch angeführte Bewegung, die mit Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen Israel zu einer Änderung seiner die Palästinenser diskriminierenden Praktiken bewegen will. Primär davon betroffen sind in Deutschland lebende Palästinenser (ca. 200.000), deren zivilgesellschaftliche Unterstützer, sowie ein Großteil der mit den Palästinensern sympathisierenden hier lebenden Muslime (ca. 5,5 Mio).

In Frankfurt wurde der Anti-BDS-Beschluss am 28.9.2017 von der Stadtverordnetenversammlung (StVV) gefasst, verbunden mit einem an den zuständigen Dezernenten Uwe Becker gerichteten Auftrag (FR 29.9.2017):
Der Magistrat soll prüfen, ob die Stadt der Israel-Boykott-Bewegung BDS Räume verweigern darf und ob das vor einem Gericht Bestand haben würde.

Dies, obwohl Uwe Becker zur gleichen Zeit bekundete, die Beschlussvorlage sei vom Rechtsamt der Stadt abgeklärt worden und deshalb rechtlich und handwerklich in Ordnung eine Behauptung die er nie konkretisierte, für die er nie einen Beleg vorlegte.

Uwe Becker hat diesen Auftrag nie erfüllt. Mit Ausnahme der FDP, die ab Dezember 2019 Anfragen an den Magistrat formulierte, hat sich in der StVV und im Magistrat niemand für die Frage interessiert, ob die Antisemitismusbekämpfung in Frankfurt rechtskonform oder im rechtsfreien Raum erfolgt. Es gab ein informelles Schweigebündnis in der Stadtpolitik, in das sich auch die lokalen Medien einbetten ließen. Am Anfang stand die Verletzung des Rechtsstaatsprinzips, wonach Verwaltungshandeln vorab auf Rechtmäßigkeit zu überprüfen ist.

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof klassifiziert mit Beschluss vom 04.12.2020 (Az. 8 B 3012/20) den Frankfurter Anti-BDS-Beschluss als unzulässigen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit, als auch einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. In einer Frage an den Magistrat (21.1.2021) wollte der rechtspolitische Sprecher der FDP-Fraktion Dr. Schulz wissen, ob dieser es weiterhin für angemessen halte, in einer verfassungswidrigen Weise zu agieren, und wie soll die Handhabung in der Zukunft erfolgen?. Die Antwort des Magistrats unterzeichnet von Uwe Becker: Der Magistrat agiert selbstverständlich auf Grundlage und unter Beachtung von Recht und Gesetz, in der Vergangenheit, heute und auch in Zukunft. Dies gilt natürlich auch für den hier hinterfragten Vorgang (Frage vom 21.01.2021, F 3091).

Das Gravierendste daran ist nicht, dass Uwe Becker einem Kollegen zynisch ins Gesicht lügt - im Stile von Kellyanne Conway, Trump-Beraterin und Erfinderin alternativer Fakten, auch nicht, dass er das parlamentarische Fragerecht mit Füßen tritt. Das Gravierendste ist noch nicht einmal, dass er sich über die Rechtsprechung des höchsten hessischen Verwaltungsgerichts hinwegsetzt.

Das Gravierendste daran ist, was über die Zustände der Frankfurter Stadtpolitik zum Ausdruck kommt. Herr Becker schaltete und waltete, als stünde er über Recht und Gesetz, ohne dabei auf Widerspruch oder gar Widerstand zu stoßen. Er vertraute auf die Belastbarkeit des informellen Schweigebündnisses der Frankfurter Stadtpolitik und wurde nicht enttäuscht. Die Zivilgesellschaft konnte sich nicht wehren, schon weil nichts in die Öffentlichkeit drang.

Dr. Schulz fragte ausdrücklich auch nach der Handhabung in der Zukunft. Uwe Beckers Auskunft: Was in der Vergangenheit rechtskonform war, kann in Zukunft nicht rechtswidrig sein. Beckers Kommentar zum BVerwG-Urteil (Jüd. Allgemeine / 3.2.2022): Das Gericht habe grünes Licht für die Verbreitung von israelbezogenem Judenhass in Deutschlands Städten gegeben. Es ist dann eine Gewissensfrage, das Urteil auch in Zukunft zu ignorieren nicht nur in Frankfurt. Dr. Schulz schrieb in einem Brief (21.1.2021) an OB Feldmann Die von der Stadt ausgeübte Praxis, die insbesondere von Herrn Bürgermeister Becker politisch vorangetrieben wird, stellt eine gezielte Missachtung unseres Grundgesetzes und der Justiz dar. Gezieltheißt: Uwe Becker handelte in Kenntnis der Verfassungswidrigkeit seines Tuns, nicht weil er irrte.

Von der Woche der Meinungsfreiheit sollte ein Impuls zur Aufkündigung des Schweigebündnisses der Stadtpolitik in FFM ausgehen. Die Charta der Woche der Meinungsfreiheit betont die Verantwortung der Zivilgesellschaft für den Schutz des Grundrechts auf Meinungsfreiheit: Die Zivilgesellschaft trägt die Verantwortung, für die Meinungsfreiheit einzutreten, Einschränkungen der Meinungsfreiheit kenntlich zu machen und ihnen wirksam entgegenzutreten.

Mit unserer Intervention nehmen wir diese Verantwortung ernst. Wir stellen die Frage nach den Ursachen der beschriebenen Zustände. Es geht dabei nicht in erster Linie um Personen. Wichtiger ist die Frage nach den Verhältnissen, die verantwortungsloses Verhalten von Personen über Jahre ermöglichen.

Die Frankfurter Stadtpolitik landete im Fall Roger Waters erneut in der Sackgasse weil das Urteil des BVerwG ignoriert wurde, so der FAZ-Journalist Chr. Riethmüller (FAS 30.4.2023). Verwunderlich ist das nicht. Die Dezernentin Dr. Eskandari-Grünberg trat offen für die Umgehung des BVerwG-Urteils ein.

Nach dem Willen des Grundgesetzes wäre es vor allem Aufgabe der Politik auf einen an Verfassungswerten orientierten gesellschaftliche Grundkonsens hinzuwirken. Der Frankfurter Stadtgesellschaft kommt hier eine umso bedeutendere Rolle zu, als es der Stadtpolitik offensichtlich an Kraft, Einsicht und Willen fehlt, dies Rolle wahr und ernst zu nehmen.

Ein Minimalkonsens sollte selbstverständlich sein: Die Achtung von Grundgesetz und Rechtsprechung, sowie die Einsicht, dass die Bekämpfung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nur dann nachhaltig und mehrheitsfähig sein kann, wenn dieses Anliegen im Einklang mit unserer Verfassung und nicht in Widerspruch zu ihr betrieben wird.

Die Frankfurter Stadtpolitik ist aufgefordert, diesem Minimalkonsens beizutreten.

Mohammed Gahnem, Hasan Alzaanin, Jehad Ahmad (Palästinensische Gemeinde Frankfurt),
Wieland Hoban (Vorsitzender der Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost),
Helmut Suttor,
Herbert Kramm-Abendroth (Titania-Gruppe Frankfurt), Palästina-Forum Frankfurt

Pressemitteilung 3.5.2023