Erklärung der kurdischen Frauenbewegung zu den neuen Angriffen auf Nordostsyrien/Rojava

Aufruf an die demokratische Öffentlichkeit, an alle Frauenorganisationen, Menschen- und Frauenrechtsaktivistinnen

Seit dem 4. Oktober 2023 intensiviert der türkische Staat seinen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Menschen in Nord-Ost-Syrien. Der türkische Staat hat einen am 1. Oktober erfolgten Angriff der PKK in Ankara zum Anlass genommen, um seine andauernden Menschenrechtsverbrechen gegen die kurdische Bevölkerung und seine Besatzungsansprüche auf die selbstverwaltete Region in Nord- und Ost-Syrien zu legitimieren.

In diesem Kontext erklärte der türkische Außenminister Hakan Fidan am Mittwoch in einer offiziellen Ansprache den Menschen in Rojava und der selbstverwalteten Region Nord- und Ost-Syrien den Krieg. Wörtlich drohte er mit umfassenden Angriffen insbesondere auf Infra- und Versorgungsstrukturen. Dass solche Angriffe z.B. auf die Stromversorgung, Wasser und Krankenhäuser vor allem die Bevölkerung treffen, ist eine schmerzhafte Erfahrung, die die Menschen in der Region immer wieder miterleben müssen.

Mit dem Ziel Angst zu verbreiten und die Region zu destabilisieren folgte der türkische Staat umgehend seiner Drohung und führte intensive Luftangriffe mit über vierzig Zielen in der gesamten Region in Nordsyrien durch. Sie zielten einerseits besonders auf bevölkerte Orte wie z.B. auf Fahrzeuge in Großstädten, öffentliche Parkanlagen und das Gebiet um das Flüchtlingscamp Washokani, in dem sich vor allem geflüchtete Menschen aus der im Oktober 2019 vom türkischen Staat militärisch besetzten Stadt Serekaniye aufhalten.

Andererseits richteten sich die Angriffe hauptsächlich auf wichtige Ressourcen wie Fabriken, Ölanlagen sowie die Strom- und Wasserversorgung. Sie treffen also gezielt die Versorgung der Bevölkerung z.B. mit Wasser und zerstören damit grundlegende Lebensbedingungen. So reihen sich die Angriffe in die Strategie des türkischen Staates einerseits die kurdische Bevölkerung gezielt dafür zu bestrafen, dass sie sich für einen alternativen Weg entschieden haben und sich selbst verwalten. Andererseits setzen sie damit ihre andauernde Vernichtungs- und Entvölkerungspolitik in der Region fort. Obwohl sich die Türkei in der internationalen Staatengemeinschaft als der Staat stilisiert, der die meisten Flüchtlinge aufnimmt, ist er wiederholt derjenige, der bewusst durch seine Angriffe Fluchtursachen schafft.

Als die in der Region aktive Frauenbewegung Kongra Star verurteilen wir die aktuelle Kriegsdrohung und die darauf erfolgten Angriffe aufs schärfste.

Vor 11 Jahren haben wir hier in Nord- und Ostsyrien eine Frauenrevolution begonnen. Wir haben selbstverwaltete Frauenorganisationen und Räte aufgebaut und in der Bevölkerung ein Bewusstsein erreicht, dass eine Gesellschaft, in der die Frauen nicht frei sind, nicht mehr denkbar ist. Wir haben uns jeden Tag aufs neue kämpferisch dafür eingesetzt, ein demokratisches, ökologisches, auf der Freiheit von Frauen basierendes System aufzubauen und wir haben die entstandenen Errungenschaften und Werte mit großen Opfern gegen die bestialischen Angriffe des IS verteidigt.

Die aktuelle Kriegserklärung und Angriffe des türkischen Staates gegen die Selbstverwaltung und ihre Infrastruktur ist vor allem ein Angriff auf die Errungenschaften der Frauenrevolution. Sie zielen darauf ab die starken Bestrebungen der Frauen in der Region für ihre Freiheit und ein demokratisches Gesellschaftssystem in ganz Syrien zu ersticken. Sie sind eine Fortsetzung und Intensivierung des seit Monaten andauernde Drohnenkrieges der Türkei mit gezielten Angriffen auf führende Frauenpersönlichkeiten und Frauenstrukturen.

Wir Frauen in Nord und Ost-Syrien wissen um die Bedeutung der Frauenrevolution und ihrer Errungenschaften, die wir nicht aufgeben werden. Sie eröffnet nicht nur einen alternativen Weg für die kurdischen Frauen und die kurdische Gesellschaft, sondern inspiriert die Frauen aller Bevölkerungsgruppen in der Region. Sie gibt Hoffnung und ermutigt alle für Freiheit und Frieden kämpfenden Frauen im Mittleren Osten und weltweit im Widerstand gegen ein patriarchales Herrschaftssystem basierend auf Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung – diese Hoffnung müssen wir gemeinsam verteidigen!

Als Frauenbewegung Kongra Star rufen wir deshalb die demokratische Öffentlichkeit, Frauenorganisationen, Menschen- und insbesondere Frauenrechtsaktivistinnen weltweit dazu auf:

- sich mit der Frauenrevolution und der Autonomen Selbstverwaltung zu solidarisieren,
- sich öffentlich dafür einzusetzen, dass die brutalen Angriffe gestoppt werden, Rechenschaft für die begangenen Kriegsverbrechen der Türkei einzufordern
und
- unsere Forderung einer Flugverbotszone über Nord-und Ost-Syrien zu unterstützen, um auch zukünftige Angriffswellen zu verhindern.

Pressemitteilung 6.10.2023